Hinter der Nacht (German Edition)
mich
leise aus dem Zimmer und die Treppe rauf. Das war etwas, was nur Vater und Sohn
anging.
„Ich habe euch
damals nicht die ganze Geschichte erzählt“, begann Raphael später, als wir mit
ihm gemeinsam bei einem verspäteten Frühstück saßen, das im Wesentlichen nur
aus Tee bestand – mehr bekam keiner von uns herunter. Mike und ich hatten die
Schule heute Schule sein lassen. Wir waren wirklich nicht in der Stimmung für
mathematische Formeln und unregelmäßige Verben.
Zum Glück hatten
die beiden mich auch nicht allzu lange in meinem Zimmer schmoren lassen. „Dich
geht das alles inzwischen genauso viel an wie uns, Clarissa“, fand Mike, und
Raphael hatte ihm sofort zugestimmt.
„Ihr wisst ja,
dass Claire – deine Mutter – nach drei Monaten zurückkam, weil sie schwanger
war.“ Wir nickten, und Raphael fuhr fort: „Sie bekam dann ihr Kind. Soweit
stimmte alles, was ich euch erzählt habe. Aber nicht ganz. Das warst nämlich
nicht nur du, Mike, der geboren wurde.“ Er brach ab, und es glitzerte schon
wieder verdächtig in seinem Augenwinkel. Wenigstens war ich jetzt nicht mehr
die Einzige, die ständig losheulte.
„Arik war – mein
Zwillingsbruder?“, flüsterte Mike fassungslos neben mir.
Auch ich war
überwältigt – und plötzlich passte wirklich alles zusammen. Nicht nur ihre
gleichen Geburtstage und –orte, sondern vor allem auch ihre verblüffende
Ähnlichkeit, die man zwar erst auf den zweiten Blick bemerkte, dann aber kaum
noch übersehen konnte – ich hätte es schon längst merken müssen! Aber trotzdem
wäre ich darauf nie gekommen.
Mikes Gesicht
fiel in sich zusammen, und tiefe Trauer lag in seiner Stimme. „Mein
Zwillingsbruder. Und ich habe ihn nie wirklich kennengelernt.“
„Einen besseren
Bruder hättest du dir nicht wünschen können“, flüsterte ich.
„Du bist die
einzige, die das immer schon gesagt hat“, entgegnete er. „Du hast immer an ihn
geglaubt. Wir anderen hatten nicht diese Größe.“
Ich wollte
abwehren, doch Raphael unterbrach uns. „Ich habe ihn nur bei eurer Geburt
gesehen. Deine Mutter…“ Er seufzte. „Sie ist damals nicht gestorben.“
„Nicht?“, fuhr
Mike wieder auf. Röte schoss ihm ins Gesicht.
„Nein. Aber sie
ist direkt nach eurer Geburt verschwunden. Und ihn hat sie mitgenommen.“
„Das verstehe
ich nicht.“ Mike klang hilflos.
Raphael blickte
ihn an. „Während der ganzen Geburt hat sie meine Hand festgehalten. Sie hat sie
nicht einmal losgelassen, obwohl du dir sicher vorstellen kannst, dass das,
zusammen mit der Tatsache, dass wir ganz allein und vollkommen unvorbereitet
waren, fast unmöglich zu schaffen war. Aber sie hat mich angefleht, sie auf
keinen Fall loszulassen. Sonst siehst du mich nie mehr wieder , waren
ihre Worte, und das wollte ich auf keinen Fall riskieren, so absurd mir das
alles auch erschien. Aber sie war regelrecht panisch, und ich dachte, am
wichtigsten ist, dass sie ruhig bleibt.
Als ihr dann da
wart – und es war ein echtes Wunder, dass ihr das geschafft habt – hat sie mich
angeblickt mit den traurigsten Augen, die ich je gesehen habe, und gesagt, dass
ihr unsere Söhne seid. Sie heißen Michael und Ariel , fügte sie hinzu. Das
sind zwei gute Namen. Sie hat mir gesagt, ich solle dich halten, und Ariel
neben sich gelegt. Sag ihm nie – Niemals! -, woher er kommt, oder dass es
uns gibt , hat sie mir eingeschärft. Sonst ist Michael in großer Gefahr!
In Lebensgefahr! Und ich habe es ihr versprochen, mit einem
unbeschreiblichen Gefühl. Alles, was sie sagte, klang so endgültig. - Ich
glaube, da wusste ich schon, dass sie mich wieder verlassen würde.“
Er schwieg einen
Moment, bevor er weiter sprach.
„Nachdem sie
deine Nabelschnur als erstes durchgeschnitten hatte, warf sie uns noch einmal
einen langen Blick zu. Es tut mir leid, Raphael, und mein wunderschöner
Michael , waren ihre letzten Worte. Ich würde lieber als alles andere bei
euch bleiben. Aber es geht nicht. Lebt wohl! Und dann zog sie ihre Hand aus
meiner. Ich sah noch, wie sie mit der frei gewordenen Hand Ariel ergriff und
mit der anderen auch seine Nabelschnur durchtrennte – und dann war sie auf
einmal weg. Wie in Luft aufgelöst. Direkt vor meinen Augen. Und mit ihr war
Ariel verschwunden. Das Bett war leer.
Aber in meinen
Armen hielt ich ein neugeborenes Baby. Dich. Meinen Sohn. Der einzige Beweis,
dass das alles wirklich geschehen war.“
Zeit
Clarissa
Ich atmete tief
durch, als Raphael seine Geschichte
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