Hinter der Nacht (German Edition)
meine scharfsinnige Ausführung mit
hochgezogenen Augenbrauen und spitzen Lippen und ließ mich weiter zappeln.
Fieberhaft suchte ich nach irgendetwas, was ich sonst noch aus meiner
Schulvergangenheit wusste, aber mein Kopf war wie leergefegt.
„Das
viktorianische Zeitalter ist vor allem durch viele technische Neuerungen, aber
auch durch den krassen Gegensatz zwischen Arm und Reich geprägt“, ließ sich auf
einmal eine dunkle Stimme neben mir vernehmen. Nicht nur mein Kopf, sondern
auch die Köpfe aller anderen, einschließlich dem unserer Lehrerin, fuhren
überrascht herum. Seit ich ihn kannte, war es das erste Mal, dass Arik
überhaupt irgendetwas im Unterricht sagte. Er ließ sich von dem allgemeinen
Schock, den er verursacht hatte, jedoch nicht im Geringsten aus der Ruhe
bringen, sondern fuhr in bestem Professorenton fort: „Während die
gesellschaftliche Elite rauschende Bälle feiert und sich für keinen Luxus zu
schade ist, lebt die Unterschicht in unvorstellbarem Elend. Den Schmutz und
Gestank kann man sich kaum vorstellen, aber es ist gar nicht so weit von hier
entfernt. Gerade mal gute hundert Jahre.“ Er klang so sicher, als hätte er
dieses Elend mit eigenen Augen gesehen und nicht nur darüber gelesen.
Ich war
beeindruckt. Woher wusste er das? Aus dem Text jedenfalls mit Sicherheit nicht!
Miss Urquhart dagegen schien zu Recht enttäuscht, dass Arik ihr die Show
verdorben hatte. Sie wandte ihre Aufmerksamkeit von uns ab und anderen
unglücklichen Opfern zu, die sie nun auf Herz und Nieren über ihre
Textkenntnisse ausquetschte.
Ich wartete noch
ein paar Minuten, nur zur Sicherheit, bevor ich meinem Nebenmann leise
zuraunte: „Danke!“
„Wofür?“, gab er
zurück, als wäre es ihm unangenehm, mir einen Gefallen getan zu haben. Aber
mittlerweile machte mir seine stoffelige Art komischerweise kaum noch etwas aus.
Irgendwie fühlte ich mich eher herausgefordert, ihm auch mal eine andere
Reaktion zu entlocken.
„Woher wusstest
du denn das alles?“
„Ich weiß es
eben“, entgegnete er kurz angebunden.
Doch so schnell
gab ich nicht auf. „So, wie du das geschildert hast, hätte man fast meinen
können, du wärst selbst dabei gewesen!“
„Blödsinn! Wie
kommst du denn darauf?“ Seine Stimme wurde beinah zu laut, aber zum Glück war
Miss U. gerade auf der anderen Seite der Klasse beschäftigt und bekam nichts
mit.
Ich triumphierte
innerlich. Endlich hatte ich ihn mal aus der Reserve gelockt. „Es klang echt
überzeugend. Da wünscht man sich, dass man das wirklich mal selbst sehen
könnte. Vor allem die rauschenden Feste!“
„Klar, auf so
was stehst du“, gab er verächtlich zurück. „Aber an die Armut und das Elend
verschwendest du natürlich keinen Gedanken.“ Die Anklage war unüberhörbar, aber
ich zuckte nur die Schultern. Wenn er so fest entschlossen war, nur das
Schlechteste von mir zu denken, dann würde ich ihn sowieso nicht daran hindern
können.
Nach einem
prüfenden Seitenblick, der sie davon überzeugte, dass ich wieder unter den
Lebenden weilte, begrüßte Patti mich wie die verlorene Tochter, als wir uns vor
dem Karatetraining umzogen.
In der Turnhalle
schaute ich mich vorsichtig um. Arik war nirgends zu sehen. Dann jedoch machte
mein Herz unvermittelt einen Hüpfer, als sich ein kupferblonder Lockenkopf
durch die Hallentür schob – dicht gefolgt von ein paar rabenschwarzen Stoppeln.
Während Mike mir zuzwinkerte, als er mich erblickte, und meine überraschte
Miene ein neckisches Grinsen auf seinem Gesicht erscheinen ließ, geriet mein
Lächeln etwas kläglich, als ich den Ausdruck sah, mit dem Arik dessen
Hinterkopf bedachte. Wenn Blicke töten könnten, wäre Mike auf der Stelle
umgekippt.
Zum Glück jedoch
bemerkte dieser nichts von den Absichten seines Hintermanns, da er sich ganz
auf mich konzentrierte. „Clarissa, hi!“ Er blieb neben mir stehen, wobei sich
leichte Unsicherheit in seinem Gesicht abzeichnete. Stand ihm ausgezeichnet.
Irgendwie süß.
„Hi! Was machst
du denn hier? Noch dazu in Sportklamotten?“ Während ich redete, versuchte ich
gleichzeitig, an ihm vorbei einen Blick auf Arik zu erhaschen. Dessen Ausdruck
war womöglich noch finsterer geworden, als er sah, dass wir uns in aller Ruhe unterhielten.
Wutentbrannt drehte er sich um und marschierte in die entgegengesetzte Richtung
davon.
Mike hatte
inzwischen bemerkt, dass ich in Gedanken woanders war, und folgte meinem Blick.
„Oh, unser Sonnenschein“, bemerkte er ironisch.
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