Hinter der Nacht (German Edition)
Dämmerlicht getaucht. Immerhin regnete es nicht. Erst
jetzt fiel mir auf, dass wir auch die gesamte Fahrt über trocken geblieben
waren, was angesichts der Wolkenberge bei unserem Start ziemlich erstaunlich
war.
Während ich mich
noch umschaute, bückte Arik sich unvermittelt und zog seine Schuhe und Socken
aus. Als er meinen verblüfften Blick sah, musste er lachen. Fasziniert
beobachtete ich die Veränderung, die plötzlich mit seinem Gesicht vor sich
ging. Das Lachen vertrieb die ihn sonst stets wie eine Wolke umgebende
Düsternis und ließ tausend silberne Fünkchen in seinen Augen tanzen. Ich war
hingerissen. Der lachende Arik war ein ganz anderer Junge als der, mit dem ich
sonst Umgang hatte. Zumindest, solange man ihm in die Augen blickte.
„Komm mit!“,
rief er mir auffordernd zu. Dann watete er über die glitschigen Steine, die das
Seeufer bedeckten, ins Wasser hinein. Endlich wurde mir klar, was er vorhatte,
und eilig bückte ich mich, um seinem Beispiel zu folgen.
Während ich mich
noch meiner eigenen Fußbekleidung entledigte, beobachtete ich, wie er geschickt
und beinah mühelos den großen Felsbrocken, der im Wasser lag, erklomm. Wie ich
allerdings dort hinauf gelangen sollte, war mir schleierhaft. Trotzdem folgte
ich ihm bis an den Fuß des Findlings. Dort hielt ich nach irgendwelchen
Kletterhilfen Ausschau. Leider vergeblich. „Du hast nicht zufällig eine Leiter
dabei, oder?“, fragte ich schließlich in Ariks Richtung.
„Oh.“ Er drehte
sich zu mir um und schaute von oben auf mich herab. „Warte, ich helfe dir.“
Dann legte er sich bäuchlings auf den großen Stein und streckte mir seine Hand
entgegen.
Zweifelnd sah
ich zu ihm hinauf. Wollte er mich wirklich an einer Hand hochziehen? So leicht
war ich nun auch wieder nicht!
„Keine Angst,
ich lass dich nicht fallen!“
Ich erinnerte
mich daran, wie er beim Karatetraining stoisch alle Kraftübungen absolvierte,
ohne sich sichtlich anzustrengen, und beschloss, ihm noch einmal zu vertrauen.
Wagemutig streckte ich ihm meine Hand entgegen, die er mit kräftigen Fingern
ergriff. Wieder durchfuhr mich ein Blitz. Daran würde ich mich wohl nie
gewöhnen. Ich stellte meinen linken Fuß auf den einzigen, winzigen Vorsprung,
den ich in der glatten Wand des Findlings entdeckt hatte, und drückte mich dann
ruckartig mit aller Kraft hoch. Wenn er mich jetzt losließe, würde ich
rücklings ins Wasser fallen und wäre pitschnass.
Aber er ließ
nicht los. Mit einem kraftvollen Ruck zog er mich in die Höhe, und ehe ich mich
versah, saß ich auf einmal neben ihm, etwa zwei Meter über der
Wasseroberfläche.
Von hier oben
hatte man einen viel besseren Blick über den See, und zu meiner Verblüffung
stellte ich fest, dass der Himmel über uns eindeutig dämmrig war. Wie abends
kurz nach Sonnenuntergang. Ich warf einen Blick auf meine Uhr – und riss
erstaunt die Augen auf. Sie zeigte sieben Uhr abends. Das war nicht möglich!
Dann hätten wir ja – ich rechnete schnell im Kopf nach – etwa viereinhalb
Stunden bis hierher gebraucht!
„Ich glaub,
meine Uhr ist stehengeblieben“, murmelte ich.
Arik unterbrach
mich. „Psst, leise, sonst kommen sie nicht!“ Er legte seinen Zeigefinger an die
Lippen.
„Wer kommt
nicht?“
„Du wirst schon
sehen. Bleib einfach ganz ruhig sitzen. Um diese Zeit jagen sie am liebsten.“
Er erstarrte neben mir zu einer Statue und sah auf den See hinaus.
Ich musste mich
sehr zusammenreißen, um es ihm gleichzutun. Viel lieber hätte ich sein Profil
vor dem dunkler werdenden Abendhimmel betrachtet.
Eine Zeitlang
tat sich gar nichts. Der See lag still und ruhig da, und außer uns schien es
weit und breit kein Leben zu geben. Doch auf einmal schoss ein schwarz-weißer
Blitz vom Himmel herunter direkt ins Wasser hinein. Er verschwand unter der
Wasseroberfläche, um gleich darauf wieder empor zu tauchen und sich erneut in
die Lüfte zu erheben. Jetzt erst sah ich, dass es sich um einen großen
Raubvogel handelte, der nun einen silbrig glänzenden Fisch im Schnabel trug.
Fasziniert beobachtete ich, wie der Vogel über den See davonflog, bis ich ihn
am gegenüber liegenden Ufer aus den Augen verlor.
„Was war das?“,
wisperte ich.
„Ein
Fischadler“, flüsterte er zurück, ohne seinen Blick vom See abzuwenden. „Sie
brüten hier überall in den Bäumen.“
„Ich habe noch
nie einen Adler in freier Natur gesehen.“
„Ich schon. Dann
haben die Menschen sie aber fast ausgerottet“, entgegnete er, und ich
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