Hinter der Nacht (German Edition)
„Warum hat er sie erschaffen?“
Ich war von der
seltsamen Wendung, die unser Gespräch genommen hatte, reichlich verwirrt.
Hektisch kramte ich in meinem Gedächtnis, an was ich mich aus dem
Reliunterricht noch erinnern konnte. „Keine Ahnung. Ich weiß ja noch nicht
einmal, ob es Gott überhaupt gibt. – War es nicht so, dass er sich einsam
fühlte, und dann wollte er einfach Gesellschaft haben?“ Ich sah ihn fragend an.
Arik gab einen
Laut von sich, der einem Knurren beängstigend ähnlich war. Unwillkürlich
sträubten sich meine Nackenhaare. „Wie konnte er sich einsam fühlen, wenn er
doch schon die Engel hatte? Wozu brauchte er da noch Menschen?“
Zugegeben, das
ganze Thema irritierte mich ziemlich. Erst Gott und die Menschen und jetzt auch
noch Engel. Wollte er sich über mich lustig machen? Aber danach klang seine
Stimme nun wirklich nicht. Also bemühte mich um eine ernsthafte Antwort. „Ich
weiß nicht so viel über Engel. Noch weniger als über Gott. Aber in den
Geschichten kommen sie mir immer sehr …“ – ich suchte nach dem richtigen Wort –
„… unnahbar vor, sehr - steif. Einfach zu perfekt.“
Das schien ihn
zu überraschen. „Wie kann etwas zuperfekt sein? Ist Perfektion denn
nicht gerade das, was man anstreben sollte?“
„Ja, schon“,
entgegnete ich nachdenklich. „Anstreben. Aber wenn jemand zu perfekt ist, ist
das total einschüchternd. Dann hat jeder das Gefühl, den kann ich sowieso nicht
erreichen. Menschen sind nun mal nicht perfekt.“
„Aber Gott istperfekt“, widersprach er mir vehement. „Warum sollte er etwas so
Unperfektes wie die Menschen brauchen? Ihn würden doch die Engel bestimmt nicht
einschüchtern.“
„Also ich finde,
wenn jemand immer nur perfekt ist, dann ist das auf Dauer ganz schön
langweilig. Mit ein paar Unzulänglichkeiten ist einfach mehr Leben in der
Bude.“
„Leben? Das
nennst du Leben? Die Menschen haben doch nichts anderes im Kopf als sich
gegenseitig umzubringen! Warum gibt es denn so viel Elend in der Welt? Doch
nur, weil die Menschen sich gegenseitig quälen und abschlachten.“ Seine Stimme
wurde immer lauter und der Griff seiner Hand war so fest, dass es weh tat.
Er machte mir
Angst. Trotzdem flüsterte ich: „Es sind aber nicht alle so.“
„Wie bitte?“,
fuhr er mich zornig an.
Eingeschüchtert
wiederholte ich stockend: „Nicht - alle - sind so. Nicht alle Menschen sind
böse. Es gibt auch viele, die sich bemühen, das Richtige zu tun.“
„Wirklich? Und
warum gibt es dann so viel mehr Schlechtes als Gutes auf der Welt? - Soll ich
dir sagen, warum? Weil die Menschen entweder böse sind oder schwach. Auf jeden
Fall im höchsten Maße unvollkommen. Es gibt keinen Grund, warum Gott sie so
haben wollte. Die Welt wäre besser dran ohne sie.“
„Aber…“ Ich
brach ab. Er hatte ja recht. Die Nachrichten waren voll mit schlechten
Neuigkeiten, jeden Tag. Unvorstellbare Gräueltaten geschahen ständig überall
auf der Erde aus den niedrigsten Beweggründen. Am schlimmsten waren dabei oft
die Dinge, die Menschen, die sich eigentlich lieben sollten, einander antaten.
Und hatte ich etwa in meinem eigenen Leben bisher besonders viele gute Menschen
getroffen? Trotzdem weigerte sich irgendetwas in mir, ihm einfach zuzustimmen.
Trotzdem wollte ich an das Gute in den Menschen glauben.
Arik jedoch
deutete mein Schweigen offenbar als Zustimmung, denn er fragte grimmig: „Siehst
du? Selbst dir fällt nichts ein, was für die Menschen spricht.“
Ich schüttelte
störrisch den Kopf. „Auch wenn es scheinbar mehr Böses gibt, ist da doch auch
noch die andere Seite. Menschen, die Gutes tun. Die sich für Andere einsetzen
und manchmal alles opfern, selbst ihr Leben. Das kann doch nicht alles schlecht
sein!“
„Dann nenne mir
doch eine Sache, die die Menschen gut machen! Nur einen Grund, warum die
Menschen doch zu Gott gehören könnten!“
Ich zermarterte
mir das Hirn. Er klang so… verzweifelt. Ich wollte ihm unbedingt eine Antwort
geben. Was machten die Menschen gut? Was konnte ich ihm sagen? Und plötzlich
wusste ich es: „Die Liebe. Die Liebe macht die Menschen gut. Das ist der
einzige Weg.“ Die Worte waren wie von selbst in meinen Mund gekommen, ohne dass
ich sie bewusst formuliert hätte. Und sie entsprachen nicht im Geringsten
meinen bisherigen Überzeugungen. Aber auf einmal, in dem Moment, in dem ich sie
aussprach, wusste ich ohne jeden Zweifel, dass sie absolut wahr waren.
Arik schwieg.
Und auch ich wusste
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