Hinter der Nacht (German Edition)
lassen würde, und ich hatte wirklich keine Lust, mir mit
ihm hier vor aller Augen ein Wettrennen zu liefern, bei dem ich
höchstwahrscheinlich den Kürzeren ziehen würde. Also ließ ich ihn in Ruhe. Auch
beim Karatetraining am Donnerstag war er nicht, und in den Geschichtsstunden
ließ er sich ebenfalls nicht blicken. Es sah ganz eindeutig danach aus, dass er
mir bewusst aus dem Weg ging. Nur – warum? Hatte ich irgend etwas falsch
gemacht?
Ariks seltsames
Verhalten machte mir mehr zu schaffen, als ich zugeben wollte. Verstärkt wurde
das durch die Tatsache, dass die Ferien näher und näher rückten und ich immer
noch keine Ahnung hatte, was ich mit ihnen anfangen sollte. Ich konnte doch
nicht die ganze Zeit zu Hause hocken und Däumchen drehen. Mike wollte ich auch
nicht auf die Nerven fallen. Und nach Hause fliegen und Amandas und Phils
traute Zweisamkeit stören wollte ich erst recht nicht, das kam nicht in Frage.
Am
Freitagnachmittag hatte ich immer noch keinen Entschluss gefasst, wie ich die
nächsten zwei freien Wochen verbringen wollte. Ich tigerte im Wohnzimmer auf
und ab in der Hoffnung auf eine unerwartete Eingebung, als das Telefon
klingelte. Ich zuckte zusammen, dann spurtete ich hin und nahm ab. „Hallo?“
„Oh, hallo.
Clarissa? Bist du das?“, sagte eine raue Stimme am anderen Ende der Leitung.
Mein Herz geriet
schlagartig ins Stolpern. „Arik?“, fragte ich, peinlicherweise atemlos.
Überraschte
Stille. Dann: „Wer? Nein, hier ist nicht… Ich bin’s, Raphael Low. Könnte ich
Mike sprechen?“
Es dauerte eine
kleine Ewigkeit, bis ich das verarbeitet hatte. Raphael! Mikes Vater! Dabei
hätte ich schwören können, dass es Ariks Stimme war, die ich gehört hatte!
Offensichtlich hatte ich schon Wahnvorstellungen. Es wurde wirklich höchste
Zeit, dass ich mir diesen unzuverlässigen Typen wieder aus dem Kopf schlug!
„Clarissa? Bist
du noch dran?“
Ich atmete tief
durch. „Ja, klar. Entschuldigung. Ich war gerade – abgelenkt. Tut mir leid,
Mike ist nicht da. Soll ich ihm was ausrichten?“
„Ja, gerne.
Würdest du ihm bitte sagen, dass ich nach Hause komme? Am 31. Oktober. Ich
melde mich dann kurz vorher noch mal wegen der genauen Zeit. Ich freue mich
schon, dich kennenzulernen!“
„Ganz
meinerseits“, brachte ich heraus.
Es knackte in
der Leitung, und das Gespräch war beendet.
Ich starrte auf
den Hörer in meiner Hand und versuchte, die unterschiedlichen Informationen
unter einen Hut zu bringen. Raphael Low kam nach Hause, wie schon von mir
vermutet, kurz vor Mikes Geburtstag. Und ich war plötzlich noch viel neugieriger
darauf, ihn kennenzulernen. Ob er wohl auch äußerlich Ähnlichkeit mit Arik
hatte? Oder war es tatsächlich nur eine Sinnestäuschung gewesen, dass seine
Stimme wie Ariks klang? So eine Art Arik-Entzugserscheinung meinerseits? Ich
zweifelte zunehmend an meinen eigenen Wahrnehmungen und wusste nicht mehr, was
Realität war und was Phantasie. Plötzlich hielt ich es nicht mehr aus. Sollte
Arik mir doch aus dem Weg gehen, wie er wollte – er schuldete mir zumindest
eine Erklärung. Und wenn er nicht zu mir kam, dann würde ich eben zu ihm gehen.
Zum Glück wusste ich ja, wo er wohnte. Zugleich erleichtert und mit flatternden
Nerven machte ich mich kurzentschlossen auf den Weg.
Nach zweimaligem
Umsteigen und dennoch viel zu schnell kam der Bus in der Bay Road an, und
dann stand ich wieder vor dem heruntergekommenen Hochhaus. Inzwischen glaubte
ich zu verstehen, warum Arik hier wohnte. Bestimmt hatte er als Quasi-Waise
nicht gerade ein Vermögen zur Verfügung. Wahrscheinlich lebte er von
Sozialhilfe oder so etwas. Da konnte man sich keine großen Sprünge leisten.
Mein Blick fiel auf ein schwarzes Motorrad, das dicht an der Häuserwand geparkt
war. Eindeutig Ariks Maschine, auch wenn ich keine Expertin auf diesem Gebiet
war. Sofort schlug mein Herz bis zum Hals. Er schien zu Hause zu sein.
Dieses Mal hielt
ich mich nicht mit Klingeln auf, sondern drückte ohne Umstände die marode
Eingangstür auf und betrat das Innere. Wieder schlug mir muffige Luft entgegen,
die aus einer Mischung von dreckiger Wäsche, abgestandenem Essen und
ungelüfteten Wohnungen zu bestehen schien. Dem Aufzug traute ich nach wie vor
nicht über den Weg, und so erklomm ich die sechs Stockwerke bis zum
Dachgeschoss in mühsamer Fußarbeit. Dann stand ich zum zweiten Mal vor der
angekratzten, dunkelbraunen Wohnungstür.
Von der
Kletterpartie rauschte mir das Blut in den Ohren
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