Hinter der Nacht (German Edition)
nichts mehr hinzuzufügen.
Schließlich
setzte ich das Gespräch fort. „Und was ist mit dir? Macht es dir nichts aus,
immer der Außenseiter zu sein?“
Seine Antwort
klang ruhig: „Ich kann nichts daran ändern. Ich werde immer allein sein.“
Ich schluckte.
Das klang so trostlos, trotz seines ruhigen Tons. „Niemand muss allein sein.
Aber man muss auch selbst auf andere zugehen. Das habe ich hier gelernt.“
„Für dich gilt
das vielleicht, aber nicht für mich.“ Es klang endgültig.
Aber ich war
nicht bereit, das einfach so zu akzeptieren. „Was ist denn mit deiner Familie?“
„Ich habe keine
Familie.“ Warum überraschte mich das nicht wirklich? „Meine Mutter ist – nicht
mehr da“, setzte er nach kurzem Zögern hinzu, „und meinen sogenannten Vater “
– er spuckte dieses Wort regelrecht aus – „habe ich nie kennengelernt.“
„Dann lebst du
wirklich ganz allein?“, fragte ich erschüttert. „Seit wann?“
„Schon eine
Weile“, sagte er vage und versank wieder in brütendes Schweigen.
Ich versuchte,
mir seine Tage vorzustellen. In der Schule ließ er niemanden an sich heran, und
zu Hause war er erst recht verlassen. Ich konnte mir beim besten Willen nicht
vorstellen, dass ihm das gefiel, auch wenn er immer so tat.
„Wie war sie
denn so? Deine Mutter?“, wagte ich einen weiteren Vorstoß.
Ich spürte an
seiner Hand, wie er zusammenzuckte. Doch dann überraschte er mich mit seiner
Antwort: „Sie sieht ein bisschen aus wie dein… Wie – äh - Mike. Sie sieht
deinem Mike sehr ähnlich.“
Verärgert ließ
ich seine Hand wieder los. „Er ist nicht mein Mike!“
„Und warum
nicht?“, fragte er angriffslustig. „Ihr wohnt doch zusammen. Und du bist
verknallt ihn, wie all die anderen blöden Weiber. Wenn er wollte, wärst du doch
sofort mit ihm zusammen, oder nicht?“
„Nein!“ Ich war
empört. Was wusste er schon von meinen Gefühlen? Ich wurde ja nicht mal selbst
schlau aus ihnen! „Das ist echt bescheuert! Ja, Mike ist echt nett, aber das
ist auch schon alles. Ich steh echt nicht auf solche Typen, das kannst du mir
glauben!“
Er zögerte. Als
er wieder sprach, klang seine Stimme anders. Vorsichtiger. „Und – wieso bleibst
du dann in seinem Haus? Ganz allein mit ihm?“
„Weil das meine
Gastfamilie ist! - Und außerdem sind wir nicht mehr lange allein. Sein Vater
kommt bestimmt bald zurück.“
„Sein - Vater?“,
fragte er gedehnt. „Kennst du ihn?“
Ich war froh
über den Themenwechsel, wenn auch etwas überrascht über sein Interesse. „Nur
von ein paar Mails. Scheint okay zu sein“, stellte ich fest, auch wenn ich mir
dessen nicht so sicher war. Aber irgendwie fand ich es nicht fair, Arik von
meinen Zweifeln an Raphael Low zu erzählen. Immerhin hatte der mich in sein
Heim aufgenommen.
„Wo ist er denn
im Moment?“
„In Südamerika,
beruflich. Aber wie gesagt, ich schätze, er wird spätestens in ein paar Wochen
zurück sein. Vor Mikes Geburtstag.“
„Und wann ist
das?“
„Anfang
November, am 5., glaube ich.“ Meine Verwunderung über sein Interesse an Mike
nahm zu, aber ich ließ mir nichts anmerken.
„Am Guy-Fawkes-Day ?“
Seine Stimme klang auf einmal erregt. „Wirklich? Du weißt nicht zufällig auch
noch, wo er geboren ist?“
„Nein, keine
Ahnung. Irgendwo in Schottland, schätze ich. Warum?“
„Nur so.“ Aber
die Erregung in seiner Stimme passte nicht zu dem, was er sagte. Ich war mir
sicher, dass sein Interesse nicht „nur so“ war. Und das machte mich
ziemlich neugierig.
„Und du?“,
fragte ich zurück. „Bist du auch ein waschechter Schotte?“
„Wenn du meinst,
ob ich in Schottland geboren wurde, dann ja“, bestätigte er. „Auf North Uist.“
Ich hatte keine
Ahnung, wo das war, und speicherte die Information in meinem Gehirn unter
„später nachschlagen“ ab.
„Und wann hast du Geburtstag?“
Er zögerte. Dann
antwortete er: „Ist schon ein Zufall – ich bin auch am Guy-Fawkes-Day geboren. Wie er.“
„Nein! Ehrlich?“
Jetzt verstand ich sein plötzliches Interesse. „Aber nicht im gleichen Jahr,
oder? Mike ist doch ein Jahr älter als du, nicht wahr?“
„Äh – ja“,
entgegnete er. „Scheint so. Trotzdem komisch.“
Das fand ich
auch. Dass ausgerechnet die beiden Jungen, mit denen ich hier von Anfang an am
meisten zu tun hatte, am gleichen Tag Geburtstag hatten, war schon ein
merkwürdiger Zufall.
Arik gab mir
seine Hand nicht wieder, aber irgendwann merkte ich, dass wir so
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