Hinter der Nacht (German Edition)
unerträglich. Fast gehe ich sofort wieder auf ihn los. Aber Mike
lenkt die Aufmerksamkeit zurück auf sich. „Clarissa ist weg.“
Okay, also hat
er sie doch nicht vergessen.
Rasch erzählt er
seinem Vater, was er beobachtet hat. Raphael sieht ihn schockiert an. „Aber –
wer kann das gewesen sein?“ Dann scheint ihm ein Gedanke zu kommen. „Wir müssen
die Polizei rufen! Sofort! Vielleicht sind sie noch nicht weit!“
Auf Mikes
Gesicht erscheint ein erleichterter Ausdruck, und er zieht umgehend sein Handy
aus der Jacke.
„Nein!“
Die Köpfe der
beiden fahren zu mir herum. „Wieso nein?“, fragt Mike verwirrt. „Keine
Polizei?“
„Das bringt
nichts.“
Ein plötzliches
Verstehen zuckt über sein Gesicht, das sich augenblicklich verfinstert. „Kann
es sein… Weißt du etwa mehr darüber?“, fragt er, während er drohend einen
Schritt näher kommt. „Kennst du diese Typen?“
Ich schüttle den
Kopf. „Nein. Aber ich denke, ich weiß, was sie sind. Und was sie
wollen.“
Augenblicklich
durchbohren mich zwei Augenpaare. „Und? Das wäre?“
„ Mich . Ich schätze, sie waren hinter mir her. In dem Durcheinander müssen sie uns
verwechselt haben.“
Die Antwort ist
mir in dem Moment klar gewesen, als Mike die Art ihres plötzlichen Erscheinens
und Verschwindens beschrieben hat. Dafür gibt es nur einemögliche
Erklärung. Es müssen Wächter gewesen sein.
Wächter. Schon
der Gedanke daran lässt mich schaudern. Die Wächter sind der Schrecken meiner
Kindheit gewesen. Die einzigen, vor denen meine Mutter Angst zu haben schien.
Ihre Geschichten haben mich mein Leben lang begleitet. Und mit den Geschichten
die Warnung, ja niemals – um keinen Preis – ihre Aufmerksamkeit zu erregen.
Denn wenn man von ihnen erwischt wird, hat man keine Chance.
Trotz des
Schreckens war ich gleichzeitig auf eine kindliche Art fasziniert von ihnen.
Die Wächter sind so etwas wie die höchste moralische Instanz meiner Welt, die
absolute Elite, unfehlbar und unbesiegbar, sowohl geistig als auch körperlich.
Sie treten stets zu zweit auf und halten bis in den Tod zusammen. Sie wachen
über die Gebote, und sie geben niemals auf, bis sie diejenigen, die sie suchen,
gefunden haben. Gefunden und eliminiert. Denn sie sind Verfolger und Richter in
einem. Und sie kennen nur eine Strafe. Nur die Besten werden für würdig
befunden, einer von ihnen zu werden.
Trotz all der
abschreckenden Geschichten meiner Mutter und trotz ihrer offensichtliche Angst
– oder vielleicht gerade deswegen? – träumte ich insgeheim davon, wenn ich
älter wäre, zu ihnen zu gehören. Nicht nur, weil ich gerne so furchtlos und
unbesiegbar und mächtig gewesen wäre wie sie, sondern noch viel mehr wegen
ihrer unzertrennlichen Zweisamkeit. Denn im Gegensatz zu den Wächtern war ich
stets allein. Zwar hatte ich meine Mutter, doch außer ihr gab es niemanden.
Keinen Bruder, keinen Freund, noch nicht einmal einen flüchtigen Bekannten.
Meine Mutter isolierte uns streng von allen anderen. Sie behauptete, es sei
genug, uns zu haben, und dass wir niemand anders bräuchten. Und ich liebte sie
viel zu sehr, um ihr von meiner Sehnsucht nach einem Gleichgesinnten zu
erzählen. Von meiner Einsamkeit. Ich wollte sie nicht noch trauriger machen,
als sie sowieso schon war. Das einzige Mal, als ich es wagte, meiner Mutter von
meinem Traum zu erzählen, ebenfalls ein Wächter zu werden, drehte sie fast
durch. „NEIN! Niemals! Du darfst niemals auch nur daran denken , in ihre
Nähe zu kommen! Niemals , hörst du? Sie würden dich umbringen !
Versprich es mir! Versprich mir, dass du alles tust, um niemals ihre
Aufmerksamkeit zu erregen!“ Also versprach ich es, auch wenn ich ihre Reaktion
überhaupt nicht verstand. Warum sollten die Wächter mich töten wollen? Ich
hatte doch nichts Verbotenes getan. Wie auch, da ich mein ganzes Leben nur mit
meiner Mutter verbrachte, die die tugendhafteste Frau war, die ich mir
vorstellen konnte? Sie achtete so extrem auf die Einhaltung aller Gebote, dass
es mich geradezu in den Fingern kribbelte, einmal nur eins davon zu übertreten,
wenigstens ein winzig kleines. Aber ich tat es nie, weil das für meine Mutter
das Schlimmste gewesen wäre, was ich ihr antun könnte. Und wir hatten doch nur
uns beide. Erst viel später, als das Unvorstellbare passierte, das sie von mir
fortriss und mein Leben für immer zerstörte, verstand ich, was sie gemeint
hatte. Und warum es keinerlei Rolle spielte, was ich tat oder nicht
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