Hinter der Nacht (German Edition)
abgepasst
und Clarissa gleich an Ort und Stelle befreit. Oder, noch einfacher, die beiden
einfach daran gehindert, sie überhaupt erst zu ergreifen. Aber da es sich bei
ihnen um Wächter handelt, sind diese Überlegungen müßig. Sie würden genau das
gleiche tun wie ich und mir dabei ständig einen Schritt voraus sein. Vor allem,
weil sie im Gegensatz zu mir sehr erfahren in solchen Situationen sind, während
ich zum ersten Mal mit ihnen zu tun habe. Auf diese Weise werde ich sie mit
Sicherheit nicht überrumpeln. Nein, mir bleibt nichts anderes übrig, als ihnen
zu folgen und zu sehen, was sie mit Clarissa vorhaben. Und mich ihnen zu
stellen, wann und wo sie es wollen.
Mir ist klar,
dass damit sämtliche Vorteile auf ihrerSeite sind. Und dass ich wohl
kaum eine ernsthafte Chance gegen sie habe. Aber was soll ich sonst tun?
Clarissa einfach ihrem Schicksal überlassen?
Ein Teil von mir
antwortet darauf ganz eindeutig mit Ja. Schließlich hat sie mir dieses
Problem erst eingebrockt. Sie ist diejenige gewesen, die mich gleich bei unserer
ersten Begegnung aus meiner Reserve gelockt hat und die danach meine
Unauffälligkeit immer mehr zum Einsturz gebracht und damit die Wächter
höchstwahrscheinlich erst auf meine Spur gebracht hat. Und sieist ein
Mensch – ihr Schicksal sollte mir gleichgültig sein. Ja, ich sollte sie einfach
ihrem Schicksal überlassen. Aber ich kann es nicht. Aus irgendeinem
unbekannten, beschissenen Grund bringe ich es nicht über mich, sie im Stich zu
lassen. Was auch immer sie getan hat, es ist keine böse Absicht gewesen. Sie
kann schließlich nichts dafür, dass ich der bin, der ich bin. Und selbst wenn
ich beschlösse, mich nicht weiter um sie zu kümmern – nützen würde es mir
sowieso nichts. Jetzt, wo Clarissa einmal in den Händen der Wächter ist, können
sie mich ohne Schwierigkeiten jederzeit an jedem beliebigen Ort aufspüren, an
dem ich jemals mit ihr gewesen bin. Selbst, wenn sie es ihnen vielleicht nicht
verraten will. Aber die Wächter haben so ihre Methoden, derartige Informationen
aus unkooperativen Gefangenen herauszuzwingen. Ich habe also keine Wahl. Und
irgendwie bin ich fast froh darüber.
Ich halte mich
in gleichmäßigem Abstand zu dem dahinrasenden Fahrzeug vor mir und brauche
meine ganze Konzentration, um sie nicht aus den Augen zu verlieren. Bisher habe
ich noch nie jemanden wie sie verfolgen müssen. Jemanden, der über die gleichen
Fähigkeiten wie ich verfügt. Es ist schwieriger, als ich gedacht habe. Wenn sie
mir ernsthaft entkommen wollten, hätte ich vermutlich keine Chance.
Sie fahren
stetig Richtung Osten, die Küste entlang. Die Sonne rast uns entgegen, versinkt
hinter mir und taucht kurz darauf vor mir wieder auf. Schon bald kommt sie mir
vor wie ein feuriger Halbkreis, dessen Anfang und Ende miteinander
verschmelzen, immer wieder unterbrochen von Dunkelheit und dahinrasenden
Wolken, aus denen es ab und zu kurz schüttet. Nach kurzer Zeit bin ich von Kopf
bis Fuß durchnässt und durchfroren. Flüchtig frage ich mich, wie das alles auf
Clarissa wirken muss. Fallssie es mitbekommt. Ich knirsche mit den
Zähnen. Wer weiß, was die beiden mit ihr gemacht haben. Oder noch machen
werden.
Wütend drehe ich
den Gashebel bis zum Anschlag, aber der Abstand zwischen mir und den Verfolgten
verringert sich nur kurzfristig. Dann scheinen auch sie noch an Tempo
zuzulegen, und ich kann ihnen nicht näher kommen.
Die wilde Jagd
dauert endlos, und ich habe schon längst die Orientierung verloren. Deshalb
verpasse ich beinahe den Augenblick, als das Motorrad vor mir plötzlich nach
links von der Straße abbiegt und verschwindet. Ich bremse scharf, so dass die
Sonne irgendwo hinter mir zum Stillstand kommt. Den langen Schatten nach zu
urteilen, die sich vor mir erstrecken, ist es Abend, und es wird rasch dunkler.
Nachdem ich eine
Weile gewartet habe, um sicherzustellen, dass sie nicht zurückkommen, fahre ich
langsam wieder vorwärts, bis zu der Stelle, an der die Verfolgten verschwunden
sind. Beim Näherkommen sehe ich, dass dort ein schmaler Weg offenbar in
Richtung Küste führt. Die Gegend ist so einsam, wie sie nur sein kann. Weit und
breit deutet nichts auf menschliches Leben hin. So weit das Auge reicht, sehe
ich nur vom Wind zerzauste Sträucher, die sich landeinwärts neigen. Vor mir
meine ich das entfernte Rauschen der Wellen und die Schreie von Seevögeln zu
hören. Dann biege ich um eine Ecke und sehe plötzlich weit unter mir das Meer
liegen. Ich
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