Hinter der Tür
Augenblick empfinde. Wegen des Abendessens und des Frühstücks morgen und den folgenden Mahlzeiten.« Sie sah ihn an. »Ich überlege, was man in solchen Instituten vorgesetzt bekommt. Wahrscheinlich Suppen und viel Zusammengekochtes. Vielleicht ist das auch Mrs. Bellin- gers Absicht – sie versucht mich schon an das Essen zu gewöhnen.«
»Der Witz ist mir zu hoch.«
»Ich meine, man kann uns dort ja keine Steaks oder Roastbeef oder andere Dinge servieren, die man mit dem Messer schneiden muß. Vielleicht gibt‘s nicht mal Gabeln. Das wäre doch zu gefährlich. Wir würden uns vielleicht gegenseitig zerfleischen, wir Verrückten …«
»Ach, jetzt verstehe ich«, sagte Steve stirnrunzelnd. »Nur ist das nicht besonders komisch.«
»Ich versuche dich nicht aufzuheitern. Vielleicht will ich dich nur warnen.«
»Wovor?«
»Vor mir. Davor, dich mit mir einzulassen. Dein Abendbrot vom selben Tablett zu essen wie ich. Wer weiß, vielleicht ist meine Krankheit ansteckend.«
»Ich hab‘s doch gewußt!« sagte Steve. »Ich wußte, daß du dich in eine Depression hineinsteigern würdest, wenn du in diesem Zimmer bliebst. Das habe ich auch deinem großartigen Dr. Vanner gesagt.«
»Du hast mit ihm gesprochen?«
»Ja, heute nachmittag. Ich wollte wissen, was er davon hält–von deinem Alptraum.«
»Ich habe ihm noch gar nicht gesagt, daß ich Helen gesehen habe.«
»Weiß ich. Ich meine, du solltest das fix nachholen. Du brauchst jemanden, der ein wenig kompetenter ist als ich und der dich überzeugt, daß die Sache gar nicht so schlimm war, wie du anzunehmen scheinst. Daß eine Halluzination nicht genügt, um dich in den Eßsaal einer Irrenanstalt zu verbannen – ohne Messer und Gabeln …«
Plötzlich begann etwas zu knistern. Steve war überrascht, aber Gail schien das Geräusch zu erkennen. Sie erhob sich müde und ging zum Nachttisch neben ihrem Bett. Dicht neben einer Porzellan-Ballerina, die verkrümmt auf einem Spieldosenpodest verharrte, stand ein kleines braunes Gerät mit einem Lautsprecherrost. Gail drehte einen Knopf und sagte: »Ja, Mrs. Bellinger?«
»Post für dich, Liebling.«
»Um diese Zeit?«
»Eilzustellung. Ein großer Umschlag. Soll ich ihn raufbringen?«
»Können Sie erkennen, woher er kommt?«
»Poststempel London.«
Gail sah Steve an, der hastig sagte: »Ich hole den Umschlag. Sag Mrs. Bellinger, sie soll ihre Hühneraugenpflaster anbehalten.«
Als er die Treppe hinaufeilte, betrachtete er den festen Umschlag, sah aber keinen Absender, sondern nur eine Gruppe vornehmer Marken und den datierten Poststempel. Der Inhalt, der im Umschlag herumrutschte, bestand offenbar aus mehreren Teilen.
Es waren Briefe. Die säuberlich aufgeschlitzten Umschläge waren lose verschnürt und trugen USA-Mar- ken. Obwohl er kein Philatelist war, wußte Steve, daß die Marken mindestens zwanzig Jahre alt waren.
»Was sind das für Briefe?« fragte er. »Wer hat sie geschrieben?«
»Sie sind alle von meinem Vater.« Sie blätterte die Umschläge leicht verwundert durch. »Briefe meines Vaters an seinen Bruder in London. Alle Briefe sind an Gilbert Swann, Fulham Road 21, gerichtet.«
»Wer hat dir die Briefe geschickt? Ist kein Schreiben dabei?«
»Eine Art Zettel, der aber nicht an mich gerichtet ist. ›Nachlaß Gilbert Swann Esq. Weitergegeben durch M. Spyker in Firma Tremont, Tushingham & Spyker, Londons«
»Klingt nach einem Anwaltsbüro.«
»Möglich.«
»Man hat die Briefe sicher bei den Sachen deines Onkels gefunden. Und da du die einzige lebende Verwandte bist, war man wohl der Ansicht, du müßtest sie bekommen.«
»Ja«, sagte Gail und zog einen der Briefe aus dem Umschlag, ohne auf die chronologische Reihenfolge zu achten. Hastig überflog sie die mit Schreibmaschine geschriebenen Zeilen, warf Steve jedoch einen beunruhigten Blick zu, ehe sie unten auf der Seite angekommen war. »Es scheint mir nicht recht zu sein, die Briefe zu lesen. Ich weiß, es sind Briefe meines Vaters, aber irgendwie habe ich das Gefühl, in seine Privatsphäre einzudringen.«
»Ich finde das nicht«, sagte Steve leise, der erleichtert war über die willkommene Ablenkung für Gail. »Wenn ein Mensch stirbt, werden seine Briefe zu Besitzobjekten. In diesem Fall zu deinem Erbe. Frag Tremont, Tu- shingham & Spyker.« Grinsend: »Tolle Namen haben diese englischen Anwaltbüros!«
Sie las bereits die zweite Seite.
»Er schreibt über meine Mutter!«
Plötzlich war Steve gar nicht mehr überzeugt, daß ihm die
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