Hinter der Tür
ich auf Härtefall plädiere – und damit meine ich natürlich Cressie, deren Zustand schlimmer geworden ist – trotz der Therapie von Dr. Vogel, der vielleicht selbst bald aus Washington fort muß. Vielleicht ist er‘ froh darüber, da er der fortschreitenden Schizophrenie meiner Frau keinen Einhalt gebieten kann – eine Krankheit, zu deren Symptomen jetzt zählen (ich zitiere eine Liste, die Dr. V. mir gegeben hat): Entpersönlichung, Entfremdung von der Wirklichkeit, nihilistische Wahnvorstellungen, Verfolgungswahn, visuelle Halluzinationen. Das letzte Wort bezeichnet einen schrecklichen Zwischenfall, von dem ich bisher noch niemandem erzählt habe – daß ich Dir jetzt davon schreibe, bringt mir wenigstens ein bißchen Erleichterung. Der alptraumhafte Vorfall ereignete sich kaum vierundzwanzig Stunden nach dem Herzanfall des Colonels. Obwohl Siefert ziemlich oft bei uns zu Besuch war, hätte ich nicht angenommen, daß Cressie sein Tod irgendwie nahegehen würde. Aber offenbar war das ein Irrtum, denn mitten in der Nacht begann sie plötzlich zu schreien – ich meine, mit voller Lautstärke und ohne innezuhalten; ich konnte tun, was ich wollte, ich vermochte sie nicht zu beruhigen. Sie schwor mir, Colonel Siefert sei im Haus, er sitze unten im Wohnzimmer und würde erst gehen, wenn Cressie zu ihm ginge, wenn sie mit seinem »Geist« das Haus verließe. Ich weiß, wie irr das klingt, Gilly, aber so war es, und du kannst dir vorstellen, wie schockiert ich war. Und noch schlimmer: Cressie hat sich auch hinterher an diesen Wahn geklammert und behauptet bis heute, der alte Colonel sei zurückgekommen, um sie mitzunehmen, und ich muß gestehen, daß ich den Wunsch habe, vor ihren Problemen zu fliehen, wie auch vor denen, die sie mir bereitet – so egoistisch sich das anhören mag …
»Genau wie ich«, sagte Gail zu Steve.
Er hob die Hand, um sie zu berühren, und sie wich fast angewidert zurück.
»Bitte versuch mich nicht zu trösten«, sagte Gail. »Versuch mich nur zu verstehen. Versuch die Sache realistisch zu sehen, Steve, ohne dir oder mir etwas vorzumachen. Begreifst du nicht, was diese Briefe zeigen? Meine Mutter steuerte schon auf den Wahnsinn zu, ehe mein Vater fiel; es war bei ihr nicht nur ein Anfall von Melancholie, sondern etwas, das tiefer ging, viel tiefer, so tief, daß es in ihrer Erbmasse sitzen mußte.«
»Dafür hast du keinen Anhaltspunkt!«
»Ihr Wahnsinn war genau wie der meine, und ihr Zustand führte dazu, daß man sie in eine Anstalt stek- ken wollte. Aber dem schob sie einen Riegel vor, indem sie sich umbrachte. Das ist der einzige Grund, warum sie nicht in ein Asyl gekommen ist, Steve, weil sie sich das Leben nahm!«
»Hör auf, dich wie ein Spezialist aufzuführen! Frag deinen Arzt, um Himmels willen – aber stell dir nicht andauernd selbst die Diagnosen!«
»Man wird versuchen, mich einzuweisen – genauso wie man‘s bei ihr getan hätte. Das weißt du so gut wie ich.«
»So einfach ist das nicht mit dem Einweisen«, sagte Steve heftig. »Man kann niemanden in eine Anstalt bringen, wenn nicht belegt ist, daß der Betreffende für sich selbst oder andere eine Gefahr darstellt – oder wenn ein Familienmitglied beweisen kann, daß den Interessen der Familie und der Öffentlichkeit durch eine zwangsweise Behandlung am besten gedient wäre.«
»Hört sich an, als hättest du die Stelle nachgeschlagen.«
»Wenigstens kenne ich das Gesetz unseres Staates in diesem Punkt – zumindest ein wenig.«
»Und ich auch«, sagte Gail tonlos. »Ich habe ebenfalls nachgeschaut, Steve. Und ich weiß, daß es tatsächlich Leute gibt, die mächtig genug sind, mich in ein solches Institut zu stecken – zum Beispiel die Treuhänder meines Vermögens. Die mir ohnehin in der Welt am nächsten stehen.«
»Das ist Unsinn. Die Bank steckt dich bestimmt nicht in eine Anstalt.«
»Die Treuhänder könnten ein Verfahren in Gang bringen. Dagegen gibt es kein Mittel, wenn sie ihre Behauptung beweisen könnten, Steve – merkst du das nicht?«
»Sie sind nicht verwandt mit dir!«
»Aber ich habe doch sonst niemanden! Ich habe niemanden, der sich in einem juristischen Verfahren für mich verwenden könnte. Meine Eltern sind tot, mein Onkel ist tot. Wer setzt sich für mich ein, Steve – Mrs. Bellinger? Dr. Vanner, Dr. Yost?«
»Wie war‘s mit mir?«
»Du weißt ja nicht, was du redest.«
»Aber klar. Glaubst du, ich habe nicht darüber nachgedacht? Und nicht weil du in Gefahr bist, in eine
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