Hinter der Tür
unbekümmert in meinem Revier.«
»Sie wissen durchaus, was ich meine. Gail mußte sich begreiflich machen, was ihre Mutter aus dem Gleis geworfen hatte. Sie scheute vor der Vermutung zurück, daß es etwas Organisches war. Nein, das ist nicht das richtige Wort. Ich meine … etwas Vererbtes.«
»Und wie können diese Briefe darauf hindeuten?«
»Sie beweisen nichts dergleichen, sie machen nur deutlich, daß mit ihrer Mutter schon lange vor dem Selbstmord etwas nicht stimmte. Sogar bevor der Vater in die Armee ging. Sie sehen nicht gerade überrascht aus.«
»Warum sollte ich?« Vanner zuckte die Achseln. »Schließlich habe ich Gails Mutter nicht posthum behandelt. Ich habe Gail nie glauben können, daß ihre Mutter verrückt wurde, weil sie den Mann verlor. So gefühllos das auch klingen mag, das ist nur bei wenigen Frauen der Fall.«
»Aber haben Sie nicht immer vermutet, daß eine Depression sie in den Selbstmord trieb?«
»Wer lacht oder kichert schon, wenn er den letzten Schritt macht?« Vanner stand auf, und seine Handschuhe fielen mit leisem Geräusch zu Boden. »Hören Sie, mein Freund. Ich bin gekommen, um meine Patientin zu sprechen und nicht um ein Seminar über abnorme Psychologie abzuhalten.«
»Ich will Ihre Meinung wissen, verdammt!« sagte Steve. »Das Mädchen da oben redet sich langsam ein, sie müßte durchdrehen, nur weil es ihrer Mutter genauso ergangen ist, sie ist überzeugt, da sei etwas in ihrer Erbmasse oder ihrem Blut, durch das alles vorprogrammiert ist – und Sie sollen ihr sagen, wie dumm das ist!«
»Weil sie sich irrt – oder weil Sie es für das beste halten, sie gewähren zu lassen?«
»Wollen Sie damit sagen, sie hätte vielleicht recht}«
Vanners Seufzen zeigte, daß er mit seiner ärztlichen Geduld am Ende war. »Sie wären überrascht zu hören, wie weit die Ansichten über den erblichen Wahnsinn auseinandergehen.«
»Wie lauten diese Ansichten? Über die Schizophrenie, zum Beispiel? Kann man Schizophrenie erben, etwa wie Diabetes?«
»Es gibt Leute, die das annehmen. Die Chancen, daß irgendwer schizophren wird, stehen etwa fünfzig zu eins. Aber für das Kind eines schizophrenen Elternteils ist diese Chance knapp zehn zu eins. Wenn beide Eltern vorbelastet sind, etwa zwei zu eins.«
»Gails Vater scheint in Ordnung gewesen zu sein«, sagte Steve. Seine Stimme klang fast wehmütig.
»Ich ergreife in dieser Sache nicht Partei«, sagte Van- ner großzügig. »Es gibt eine Theorie, wonach sich diese Zahlen auch auf die Vermutung anwenden lassen, daß die Schizophrenie von der Umgebung abhängt. Ein geistesgestörter Elternteil ist doch ein sehr wesentlicher Teil der Umwelt eines Kindes, meinen Sie nicht auch?«
Steve schüttelte den Kopf. Er wollte damit keine Verneinung ausdrücken, sondern nur seine Gedanken ordnen.
»Sie müssen Gail beruhigen. Sie müssen ihr erzählen, daß niemand sie in eine Anstalt steckt. Wenn sie das weiter annimmt, ist sie zu allem fähig.«
»Definieren Sie mir ›alles‹.«
»Lieber nicht.«
Vanner hob seine Handschuhe auf und schlug damit gegen den Stuhl, um den Staub des Teppichs zu entfernen. Dann wandte er sich ab. Er war an der Tür, als Steve fragte: »Würden Sie es zulassen, daß sie eingewiesen wird?«
Vanner drehte sich langsam wieder um. »Was haben Sie gesagt?«
»Würden Sie sich gegen Gail stellen, wenn gewisse Leute ein Entmündigungsverfahren gegen sie einleiten? Nach dem Gesetz sind dazu zwei Ärzte erforderlich. Sie wären logischerweise einer der Kandidaten, obwohl nirgendwo geschrieben steht, daß die Ärzte Psychiater sein müssen.«
»Wer sind die geheimnisvollen Leute, von denen Sie sprechen?«
»Das wissen Sie so gut wie ich.«
»Ah«, sagte Vanner. »Die Bank.«
»Ja, die Bank ist eine sogenannte betroffene Partei«, sagte Steve, den jedes einzelne Wort schmerzte. »Da Gail keine anderen Familienangehörigen hat, ist die Bank juristisch berechtigt, ein Hearing zu beantragen. Sie kann ihre Beweise auch vor ein Gericht bringen und zu beweisen versuchen, daß Gail eine Gefahr für sich selbst und für ihr Vermögen ist. Selbst wenn man damit keinen Erfolg hätte – können Sie sich vorstellen, welche Wirkung es auf Gail haben müßte, sich auf das Schlimmste gefaßt zu machen?«
»Und was ist das ›alles‹, das Sie eben erwähnten?«
»Warum müssen wir um den heißen Brei herumreden? Sie wissen genau, daß ich von Selbstmord spreche. Und jetzt beantworten Sie bitte meine Frage!« Seine letzten
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