Hinter Geschlossenen Lidern
Er ließ mich nicht aussprechen. Oh Gott, was war ich für ein Esel gewesen! Nur ganz langsam tröpfelte mir die Erkenntnis in mein schockgefrorenes Hirn, was das, was er sagte, zu bedeuten hatte und ich war nicht in der Lage, richtig zu reagieren.
“Ich weiß, dass du es nie offen leben könntest.“, sprach er weiter. „Ich wäre auch mit wenig zufrieden. Hauptsache, wir wären zusammen. Doch wenn jetzt alles von vorne beginnt ... lieber fange ich irgendwo anders noch einmal ganz neu an.”
“Bitte, Clive, ich will nichts von ihm. Ich muss nur wissen, was damals passiert ist. Mein Bruder ...”
Er lachte bitter auf.
“Dein Bruder, ja klar. Dein Bruder ist im Heroinrausch ohne zu bremsen gegen einen Baum geknallt. Das ist passiert.”
“Aber er hatte das im Griff, wir haben doch nicht einmal bemerkt, wenn er drauf war und er war ein sehr guter Fahrer. Selbst wenn er etwas genommen hätte ...”
“Niemand hat so etwas ernsthaft im Griff, das gibt es gar nicht. Dein Bruder hat sich nicht das Leben genommen, dich trifft an dem Unfall keine Schuld.”
“Woher weißt du ...?”
“Dass du befürchtest, er habe deinetwegen Selbstmord begangen? Ich weiß alles, was dich betrifft. Dein Bruder hat dich gehasst, weil deine Geburt seine geliebte Mutter umgebracht hat ...”
“Nein ...!” Ich schrie gequält auf, barg mein Gesicht in den Händen und krümmte mich unter den plötzlichen seelischen Schmerzen.
Doch Clive fuhr unbeirrt fort. “Gleichzeitig hat er dich aufgezogen, dich mehr als alles andere geliebt und auch das hat er gehasst. Ein solcher Zwiespalt mag ihn in die Sucht getrieben haben, vielleicht hat er dir Braden deshalb weggenommen, um sich unbewusst für all das an dir zu rächen. Aber er hat sich nicht umgebracht deswegen.”
“Du warst nicht dabei, keiner war dabei!”, schrie ich.
“Bis auf Braden vielleicht? Der Kerl verarscht dich, wenn er das behauptet. Im Polizeibericht steht nichts von einer zweiten Person.”
“Ich weiß selbst, was im Polizeibericht steht!”
“Und jetzt willst du bei Braden dein Seelenheil riskieren, nur um dir das von ihm bestätigen zu lassen? Weißt du was? Du kannst mich mal. Ich traue dir nicht. Wenn du glaubst, du kannst dich mit Braden treffen, ohne ihm wieder mit Haut und Haaren zu verfallen – gut, aber ich bin dann weg. So oder so.”
Er ließ mich stehen. Ich rannte hinter ihm her. Aber er schnappte sich seine Schlüssel und war aus der Tür, noch bevor ich ihn erreichte.
“Clive!”, schrie ich in meiner Angst und horchte auf seine Schritte im Treppenhaus. Er hielt nicht an, sah sich nicht unten nach mir um, wie er es sonst tat.
Wütend schlug ich die Tür hinter mir zu, dass es krachte. Er konnte mich doch nicht so unter Druck setzen! Jetzt stand ich kurz davor ... Braden hielt vielleicht den Schlüssel zum bedeutsamsten Geheimnis meiner Vergangenheit in Händen und Clive wollte, dass ich ihn ausschlug.
Verzweifelt warf ich mich aufs Bett und boxte in die unschuldigen Kissen. Es war halb zehn, ich musste mich langsam entscheiden. Clive hatte so lange auf mich gewartet und da wollte er mich wegen ein paar Stunden mehr verlassen? Nein, ich konnte das nicht glauben. Ich würde mich mit Braden treffen und Clive dann alles erklären. Er würde es verstehen, wie er immer alles verstand ... oder nicht?
Hastig setzte ich mich auf und schrieb ihm eine SMS.
‘Clive, bitte gib mir eine Chance. Du weißt nicht, wieviel du mir bedeutest. Lass mich das nur erst klären mit Braden, damit ich damit abschließen kann. Lee.’
Ich wartete zehn Minuten, doch Clive antwortete nicht. Jetzt sollte ich eigentlich gehen, aber ... Braden würde warten, wenn es ihm ernst war. Also blieb ich eine weitere Viertelstunde – nichts. Als Clive sich auch nach einer halben Stunde noch nicht gemeldet hatte, rief ich bei ihm an.
Er hob nicht ab. Wahrscheinlich gab er sich in irgendeiner Bar die Kante und hörte das Klingeln nicht einmal. Also rief ich mir schließlich doch ein Taxi. Es war jetzt viertel vor elf. Wenn Braden weg war, dann sollte es eben so sein, dachte ich mir.
Doch er war da und er hatte sich nicht einmal umgezogen. In Jeans und T-Shirt lehnte er unter dem Dach des Taxistands und sog an einer Zigarette. Sie glühte ein letztes Mal auf, als ich ihn aus dem Wagen heraus heranwinkte, dann schnippte er sie in hohem Bogen durch den Regen in den Rinnstein, wo sie vom gurgelnden Wasser davongetragen wurde.
“Du kommst spät.”, sagte er zur Begrüßung, als er hinten zu mir
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