Hinter verschlossenen Türen
– Niemand auf der Treppe. – Komme unbemerkt hinunter. – Nur ruhig bleiben. – (Hier folgte ein klagender Seufzer.) O, wie starr ihre Augen sind!« –
Gerechter Himmel, was für Reden! Kamerons Blicke flogen nach dem Detektiv hinüber. Konnten die Worte aus seinem Munde kommen? Nein, Q.'s Lippen blieben fest geschlossen, und die entsetzliche Stimme sprach weiter:
»Wie soll ich sie tragen? – So? – Nein, man sieht ihr Gesicht. Oder so? – Aber jetzt hängt die Hand herunter. – O Gott, die furchtbare Aufgabe. –«
Es war Molesworth. Er durchlebte offenbar noch einmal im Traum die Vergangenheit einer schrecklichen Stunde und verriet im Schlafe, was keine Folter ihm in wachem Zustande entrissen hätte. Wenn der anscheinend so ruhig daliegende Geheimpolizist ihn hörte, war die Entdeckung unvermeidlich, Kamerons Herz stand still vor Entsetzen; er erwartete jeden Augenblick, ihn aufspringen zu sehen, um in atemloser Spannung auf die merkwürdigen Enthüllungen des Träumers zu lauschen.
Jetzt begann das schnelle, eintönige Gemurmel von neuem:
»Wie schwer sie ist! – Ein toter Körper, wie viel er wiegt. – Es muß ihr Herz sein – das ist schwer wie Blei – wie Blei. –«
Kameron war fassungslos. Mußte er hier liegen und hören, wie Molesworth sich selbst verriet und das Geheimnis preisgab, von dem seine Ehre, sein Glück abhing? Er hatte aufschreien mögen, um diese verräterischen Worte zu übertönen, oder an das Lager des Detektivs schleichen, um ihm die Ohren zuzuhalten. Da er aber alles vermeiden mußte, was ihn selbst bei Q. in Verdacht bringen konnte, so hielt er an sich, so qualvoll es auch für ihn war.
Er legte den Kopf zurück und schloß die Augen. Trotz der eiskalten Nacht trat ihm aber der Angstschweiß aus allen Poren, als die Stimme jetzt wieder mit schaurig hohlem Klang anhob:
»Habe manche Tote gesehen. – Noch keine in Armengetragen. – Das Blut erstarrt in den Adern. – Ich kann nicht zurück. – Die Musik, das Lachen der Gäste. – Weiter mit der furchtbaren Last – die Stufen hinunter – die Treppe – immer weiter – weiter –«
Jetzt war alle Hoffnung aus. Daß es Molesworth sei, ließ sich nicht mehr verbergen. Keiner außer ihm hatte je ein totes Mädchen in seinen Armen aus einem Hause der Freude und Festlichkeit getragen.
Und wiederum ertönte die Stimme:
»Meine Hochzeitsnacht – aber mein Herz ist erstorben – keine Hochzeit mehr für mich – sie ist tot – kalt und tot – das helle Auge starr – das Lächeln erloschen. – Genofeva – Genofeva !«
Der Name hatte nur noch gefehlt. Kameron warf einen schnellen Blick nach dem Geheimpolizisten, dessen Gesichtsausdruck ihm verändert erschien. Aber mehrere bange Minuten vergingen, jener sprach nicht und rührte sich nicht, so daß der Doktor die Hoffnung zu hegen begann, er übe nicht Verstellung, sondern schlafe wirklich.
Kameron holte nun tiefer und tiefer Atem, und trotz der empfindlichen Kälte ließ er das Feuer ausgehen, um Q., falls derselbe wirklich schlief, durch kein Geräusch zu wecken. Da dieser in derselben ungezwungenen Lage, die er von Anfang an eingenommen, verharrte, bildete sich der Doktor immer zuversichtlicher ein, er habe wirklich nichts gehört, und so ließ auch allmählich seine Wachsamkeit nach, bis er infolge seiner völligen Erschöpfung in einen tiefen traumlosen Schlummer versank.
Er mochte wohl eine Stunde oder mehr geschlafen haben, als ihn ein Geräusch im Zimmer erwecke. Sofort stand ihm alles Erlebte mit furchtbarer Deutlichkeit wieder vor der Seele. Er blickte beim Schein des tief herabgebrannten Lichtes nach der Nische hin, in welcher Q. gelegen hatte. Die Stelle war leer. Hastig wandle er denKopf nach der Türe, hinter welcher der Detektiv soeben verschwand.
Jetzt ist alles verloren. Er geht zu Molesworth, um ein Verhör mit ihm anzustellen, war Kamerons erster Gedanke. Geräuschlos verließ er sein Lager und schlich durch das Zimmer in den Gang hinaus. Dort vernahm er jedoch kein Rufen und Klopfen an Molesworths Türe, wie er erwartet hatte. Q. hatte soeben die Leiter hinabgelassen, und, ehe sich Kameron dessen versah, war er hinuntergeklettert und seinen Blicken entschwunden.
Trotz seiner Ueberraschung bei dem unerwarteten Ereignis zögerte der Doktor keinen Augenblick, sich dasselbe aus jede Gefahr hin zunutze zu machen. Kaum waren die Schritte des Geheimpolizisten verhallt, als er kräftig an Molesworths Türe rüttelte und rief: Oeffnen Sie, öffnen
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