Hinter verschlossenen Türen
erstaunte ich, als ich in ihr mein treues Ebenbild erblickte. Mein Interesse war nun vollends erwacht, und ich befragte sie nach ihren näheren Verhältnissen. Aus ihren Antworten entnahm ich, sie sei die Tochter einer Witwe, welche an der Auszehrung darniederliege und für deren Unterhalt und Pflege sie zu sorgen habe. Sie hatte das Kleidermachen erlernt und traute sich das Geschick zu, mir ein Kostüm ganz nach Wunsch anzufertigen. Mein Eifer dabei wird um so größer sein, rief sie, als ich mir einbilden kann, ich schneidere für meine eigene Figur. Sie gleicht der Ihren genau, wenn ich auch nur ein armes Mädchen bin und Sie eine vornehme Dame. – Ich konnte ihr die Bitte nicht verweigern; so gab ich ihr den Stoff und ließ sie Maß nehmen. Der erste Versuch fiel so glänzend aus, daß ich beschloß, alle meine Kleider bei ihr zu bestellen. Doch machte ich zur Bedingung, sie dürfe nie unverschleiert hier ins Haus kommen, damit unsere außerordentliche Aehnlichkeit nicht zu Bemerkungen Anlaß gebe. – Wenn ich dies alles vor dir verborgen habe, Mama, so geschah es, weil ich überzeugt war, du würdest ein Vorurteil gegen die arme Näherin fassen, weil sie deiner eigenen Tochter glich. Es hätte mirweh getan, sie mit Geringschätzung behandelt zu sehen, ich kenne deinen Stolz und kann ihn begreifen, denn der meinige ist kaum weniger tief eingewurzelt.
Mit unbefangener Miene blickte sie ihre Mutter an, deren Lächeln zu sagen schien, die Tochter habe sie nicht falsch beurteilt. Frau Gretorex seufzte wie erleichtert auf und ließ sich in einen Stuhl nieder.
Weiter weiß ich nichts zu berichten, fuhr Genofeva fort, über ihren Tod kann ich keine Auskunft geben, und –
Entschuldigen Sie, Madame, fiel hier Gryce ehrerbietig ein, hat das junge Mädchen, gegen das Sie sich so freundlich erwiesen, nie ihre eigenen Sorgen und Hoffnungen mit Ihnen besprochen? Hat sie nie Julius Molesworth erwähnt und ihre bevorstehende Heirat mit ihm?
Was soll ich darauf erwidern? rief Frau Kameron mit einem bittenden Blick auf ihren Mann, der noch immer außerhalb der Türe stand. Hilf mir, Walter; ich möchte um keinen Preis durch meine Aussagen einem Menschen schaden, auf den unglücklicherweise der Schatten eines Verdachts gefallen ist, und den ich doch für ganz unschuldig halte.
Stehe nur offen Rede und Antwort! entgegnete ihr Gatte, einen Schritt nähertretend, mir wäre es unerträglich, zu denken, daß meine Frau in einer so wichtigen Angelegenheit irgendetwas verheimlicht hätte. Ist Molesworth unschuldig – und auch ich bin davon überzeugt –, so kann ihm deine Aussage schwerlich schaden, wenn die Wahrheit dadurch ans Licht kommt.
Sein freundlicher Ton schien Genofeva zu ermutigen. Sich zu dem Detektiv wendend, fuhr sie fort:
Ja, Mildred Farley hat ihr Verhältnis zu Molesworth gegen mich erwähnt. Bald nach ihrer Mutter Tode klagte sie mir, wie einsam und trübe ihr die Zukunft erscheine und teilte mir dann zögernd mit, sie habe einen Heiratsantrag von dem Arzt erhalten, der die Krankebehandelt hatte. Ob sie denselben annehmen würde, sagte sie zwar nicht, doch schien es mir selbstverständlich, und wir sprachen nicht weiter über die Angelegenheit; ich hatte den Kopf zu voll eigener Pläne und kannte ja auch Doktor Molesworth nicht. Einige Tage vor meiner Hochzeit taten wir nun aber etwas Seltsames – ich gestehe es nicht gern ein, denn ich weiß, es wird meiner Mutter mißfallen – vielleicht auch meinem Gatten. Aber er will ja, daß ich reden soll, und ich gehorche: während unseres Verkehrs hatten wir uns sehr aneinander angeschlossen; Mildred war für ihren Stand ungewöhnlich gebildet und voller Geist und Leben. Um mich ihrer Gesellschaft ungestört erfreuen zu können und mir auch die Ruhe zu verschaffen, deren ich dringend bedurfte, schlug ich ihr einen gemeinsamen Ausflug vor. Weder ihre noch meine Bekannten sollten etwas davon erfahren, damit wir unsere Freiheit nach Herzenslust genießen könnten. Das taten wir denn auch; wir mieteten uns auf einige Tage in einer anständigen Pension in Newark ein, ich als Kranke, sie als meine Wärterin, und waren sehr vergnügt zusammen. Jetzt sehe ich wohl ein, daß es ein unpassendes und törichtes Unternehmen war, aber es kam mir so romantisch vor, das reizte mich; ich war ja damals noch nicht verheiratet. Als wir am Morgen meines Hochzeitstages Abschied nahmen, dankte mir Mildred aufrichtig und sagte, es seien die heitersten Tage ihres Lebens gewesen. Wie wenig
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