Hinter verschlossenen Türen
beweisen, so scheint mir das sehr einfach. Kann denn Frau Doktor Kameron nicht sagen, ob die Person bei ihr war oder nicht?
Gryce wußte wohl, was die stolze Frau mit diesem Vorschlag beabsichtigte. Trotz aller äußern Selbstbeherrschung brannte sie innerlich vor Begier, zu erfahren, was ihre nicht minder stolze Tochter unter dem Schein der Gleichgültigkeit vor ihr zu verbergen trachtete.
Ich habe die Frau Doktor nicht darum befragt, gab er zur Antwort. Ich nahm an, daß ihr der wahre Name und die Geschichte der unglücklichen Person unbekannt sein müsse, da sie der Polizei keinerlei Anzeige gemacht hat.
Da werden Sie recht haben, versetzte die Mutter sichtlich erleichtert. So kommen Sie denn mit mir hinauf in ihr Zimmer.
Das große geräumige Gemach auf der Vorderseite des Hauses, das sie betraten, war hübsch und wohnlich eingerichtet, aber mancherlei Anzeichen verrieten, daß kein Fuß über die Schwelle gekommen war, seitdem Genofeva es verlassen. Dieser Umstand war für den Detektiv günstig und für seine Nachforschung von ganz besonderem Interesse. Frau Gretorex war eifrig bemüht, in allen Ecken und Winkeln nach dem verlorenen Schleier zu suchen; erst als sich herausgestellt hatte, daß der vermißte Gegenstand nirgends zum Vorschein kam, deutete Gryce auf einen Haufen Kleider, welcher den Eingang zu einem kleinen Alkoven versperrte, der an das Zimmer stieß.
Sind das die Kleider Ihrer Tochter, die dort aufgetürmt liegen? Sie scheint ihre ganze Garderobe aus den Schränken geholt zu haben.
Es sind ihre alten Sachen, die sie vor der Verheiratung getragen hat; aber sie sind noch viel zu gut, um so herumgeworfen zu werden. Ich möchte wissen –
Was soll das heißen? erklang plötzlich eine heftig erregte Stimme hinter ihnen. Was geht hier ohne meine Erlaubnis in meinem Zimmer vor?
Beide wandten sich rasch um und sahen die Frau Doktor Kameron in Hut und Pelzmantel in der offenen Zimmertür stehen.
Sechzehntes Kapitel.
Die gleiche Bestürzung malte sich auf Frau Gretorex' Gesicht und dem des Detektivs, so gänzlich verschieden diese zwei Menschen auch sonst voneinander waren. Im nächsten Augenblick jedoch hatten beide die Fassung wiedergewonnen, sie aus Weltklugheit, er aus Gewohnheit. Gryce hörte nicht ohne heimliche Bewunderung, wie sie leichthin bemerkte:
Wir suchen nach dem Schleier der unglücklichen Person. Er wird vermißt, und auf der Polizei scheint man zu glauben, sie habe ihn hier verloren.
Genofeva war leichenblaß geworden.
Ich begreife nicht, begann sie, dann senkte sie das Auge vor ihrer Mutter Blick und mußte sich an die Türe lehnen, um sich aufrecht zu erhalten.
Du hast vermutlich gewußt, daß die junge Näherin, die so oft hier war, um die Kleider zu deiner Ausstattung abzuliefern, an deinem Hochzeitstag gestorben ist? fuhr die Mutter unerbittlich fort.
Keine Antwort.
Unmöglich kannst du von deinem neuen Leben so ganz in Anspruch genommen worden sein, daß du es in der Zeitung übersehen hast.
Genofeva schüttelte den Kopf.
Warum hast du denn niemand etwas davon gesagt? Das hättest du tun sollen, schon damit wir nicht den lästigen Nachforschungen und Verdächtigungen der Polizei ausgesetzt waren. Es ist dir wohl gar nicht klar gewesen, was für ein Geheimnis du verbargst? Das Mädchen hat dir vielleicht einen falschen Namen genannt, dir nicht ihr wahres Gesicht gezeigt.
Ihr Gesicht? preßte die junge Frau mühsam heraus, die Mutter mit großen Augen anstarrend.
Ja, – dieses Mädchen, Mildred Falley – soll eine ganz auffallende Aehnlichkeit mit dir gehabt haben, sagt man.
Genofevas Angst schien auf einmal gewichen; sie sah heiter und unbefangen aus, wie gewöhnlich. Mit fester Hand knöpfte sie den Pelzmantel auf und warf ihn nachlässig über einen Stuhl. So, sagt man das? Wie merkwürdig. Dann, sich zur Tür wendend, rief sie in den Vorsaal hinaus: Walter, komm herein, du mußt mir helfen; man hat mich auf Winkelzügen ertappt, ich will meine Sünden beichten.
Doktor Kamerons geistvolles Gesicht, seine hohe Gestalt erschien in der Türöffnung. Was gibt es denn? fragte er, ich will dir beistehen, so gut ich kann. Den Detektiv gewahrend, hielt er inne, unwillkürlich bestrebt, seine aufsteigende Besorgnis zu verbergen.
Nur eine Kleinigkeit, die ich aufklären möchte, warf Genofeva sorglos hin. Mildred Farley war mir nicht unbekannt, ich habe hier im Hause mehrfach mit ihr zu tun gehabt; doch wollte ich nichts davon sagen und stellte es sogar in Abrede,
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