Hinter verschlossenen Türen
müssen.
Der Beweggrund ist freilich stark genug für jede Tat, rief Gryce. Hätte ich nur damals durch Mauern und Wände sehen können, dann wüßte ich, wie alles zugegangen ist. Wir müssen das Geheimnis jener letzten Zusammenkunft der beiden Schwestern enträtseln, wenn Sie je wieder zur innern Ruhe kommen sollen, und ich zur Befriedigung in meinem Beruf.
Der Doktor sah gedrückt und niedergeschlagen aus. Ich hatte gehofft, sagte er, Sie zu überzeugen und die Sache zu erledigen, ehe meine Frau wieder zum Bewußtsein erwacht. Was Sie verlangten, habe ich erfüllt. Sie kennen das wichtige und zugleich beschämende Geheimnis, das meine Frau in der Brust verschloß und dessen drohende Entdeckung ihr die tödlichste Angst bereitete, und ich habe Ihnen bewiesen, daß Mildred Farley den hinreichendsten Grund hatte, um eine Tat der Verzweiflung zu begehen.
Wohl wahr, aber damit stehen wir zugleich vor einer neuen und furchtbar ernsten Frage: wie, wenn sich Mildred Farley nicht in das Schicksal ergeben wollte, das ihr durch die Rückkehr der wahren Genofeva bereitet wurde? Wie, wenn ihre plötzliche Unterwerfung unter die Macht der Umstände nur durch den Trank ermöglicht wurde, der sie aus immer verstummen ließ und den notwendigen Umtausch der Kleider gestattete? Oder können Sie das Gegenteil beweisen?
Beweisen? Ja, ich habe Beweise. Zeugt nicht Genofevas Angesicht unwiderleglich dafür, daß kein böser Dämon in ihr wohnt? Haben Sie sie beobachtet? Haben Sie ihr Lächeln gesehen? Edle weibliche Würde umgibt sie, ihr Wesen ist voll Sanftmut, Weichheit und Milde. Und Sie trauen ihr das Entsetzliche zu! Erst der Schwester das Leben zu nehmen und dann mit kaltem Blut die eigenen Kleider mit denen der Leiche zu wechseln: das wäre die Tat einer völlig Verworfenen. Schon der Gedanke erfüllt mich mit Grausen, die Handlung selbst ist eine Unmöglichkeit. Wir haben es mit weiblichen Wesen zu tun, nicht mit satanischen Geschöpfen – vergessen Sie das nicht!
Wir haben es mit der verzweifeltsten Lage zu tun, in der sich je ein Weib befand, war Gryces schnelle Erwiderung. Was im gewöhnlichen Lauf der Dinge gilt, findet hier keine Anwendung. Rasches, energisches Handelntat not. Liebe, Ehre, Hoffnung, ja das Leben selbst stand auf dem Spiel. In der Stunde der äußersten Gefahr gab es kein Bedenken, keine Rücksicht. Auch möchte ich Sie daran erinnern, daß Frau Doktor Kameron selbst gestand, sie habe die Leiche der Schwester in den Alkoven gezogen und dort unter dem Haufen Kleider verborgen. Wenn sie imstande war, das zu tun – Doktor Kameron ließ ihn nicht aussprechen, sondern bemerkte:
Das erforderte nur eine momentane Unterdrückung des Gefühls, es war das Werk eines Augenblicks. Einen leblosen Körper zu entkleiden und ihm die eigenen Sachen Stück für Stück anzuziehen, ist nicht damit zu vergleichen. Sie müssen doch einsehen, daß nicht einmal die Zeit dazu hingereicht hätte, selbst wenn sie es in Windeseile tat, ohne einen Moment des Zitterns und Zagens. Schon daß es ihr mit Hilfe der Schwester gelang, sich so schnell in den Brautanzug zu kleiden, ist wunderbar genug.
Freilich – freilich, gab Gryce zu.
Die Frauen, fuhr Kameron fort, brauchen bei solcher Gelegenheit stets lange Zeit, auch war kein Zeichen von Übereilung oder Mangel an Sorgfalt erkennbar; daraus folgt, daß Mildred sofort bei Genofevas Erscheinen das größere Recht der Schwester anerkannt haben muß und beide, ohne ein Wort zu verlieren, auf der Stelle den Tausch der Kleider vornahmen. Als nun Genofeva im Brautschmuck vor ihr stand, wird über die arme, grausam getäuschte Mildred eine solche Verzweiflung gekommen sein, daß sie nur noch den Tod begehrte. Sich des Fläschchens bemächtigend, von dem sie schon früher gewußt haben muß, hat sie es auf einen Zug geleert, wie meine arme Frau damals berichtete.
Gryce nahm ein Blatt Papier zur Hand und schrieb einige Worte nieder.
Scheint dies nicht die einzig mögliche Erklärung derTatsachen? fuhr der Doktor fort. Ist es vernünftig, gegen alle Wahrscheinlichkeit eine Schuld beweisen zu wollen, die so der Natur zuwiderläuft?
Der Detektiv schob das Papier wieder von sich, antwortete jedoch nicht, sondern gab dem Gespräch eine neue Wendung.
Es ist doch sehr auffallend, sagte er, daß, Fräulein Gretorex in jenen Briefen nur den Abschied von ihren Eltern erwähnt und ihrer übrigen Freunde gar nicht gedenkt, von denen sie doch gleichfalls für immer geschieden war, wenn der Plan
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