Hinterher ist man immer tot: Roman (German Edition)
eine Zeit, da war das umgekehrt. Weißt du, bevor mein Leben den Bach runterging.«
»Schon okay. Du siehst gut aus. Du brauchst nicht mehr als ein Wellnesswochenende. Vielleicht ein bisschen Vitamin B 1 . Das wird schon wieder.«
Und das stimmt, Evelyn sieht wirklich gut aus. Sie ist eine dünne Säuferin, ohne eine einzige graue Strähne im dunklen Haar. Ich kann mir genau vorstellen, welches Gesicht sie macht, wenn sie Männer um ihr Geld erleichtern will. Manchmal beobachten Zeb und ich andere Leute in Bars, überlegen zum Beispiel, ob ein Mädchen wirklich schön oder einfach nur jung ist. So perfekt, wie wir selbst sind, können wir’s uns ohne weiteres erlauben, solche Spielchen zu spielen. Die Sache ist die: Es gibt Gesichter, deren Schönheit nie vergeht. Andere werden dreißig und sehen plötzlich über Nacht nicht mehr gut aus. Evelyns Schönheit dagegen ist von Dauer. Sie hat zarte Gesichtszüge und die Art von Dekolleté, das andere fotografieren, um es ihrem plastischen Chirurgen vorzulegen. Und die Vorstellung, dass die kleine Schwester meiner Mutter ihr hübsches Gesicht benutzt, um Männern Kohle für Bier abzuluchsen, schmerzt mich.
Evelyn schnappt nach Luft. »Vitaminspritzen? Verschon mich, Dan, okay? Das hab ich schon ein Dutzend Mal hinter mir. Ich brauche einen Flachmann. Vielleicht auch noch zwei Percodan gegen diese verdammten Kopfschmerzen.«
Ich merke, dass mir der Geduldsfaden heute schneller reißt als sonst. Verdammt noch mal, ich habe mein halbes Leben als Türsteher gearbeitet. Ich habe täglich mit Betrunkenen zu tun. Aber das ist Evelyn. Die liebe tapfere Evelyn, die meiner Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten ist. Also schlage ich mit der Hand aufs Lenkrad und schreie: »Reiß dich zusammen, Tante Evelyn. Herrgott noch mal, du bist die kleine Schwester meiner Mutter. Du bist das Letzte, was mir von ihr geblieben ist.«
Evelyn lacht. Zweifellos ist sie in der Gosse schon gemeineren Gestalten begegnet als mir.
»Okay, Neffe. Wow! Ich bin das Letzte, was dir von ihr geblieben ist. Jetzt kommt’s aber richtig dicke. Und ich dachte schon, ich selbst wäre vielleicht auch was wert.«
»So hab ich das nicht gemeint.«
»Entspann dich, Danny. Du kannst auch einen Drink vertragen. Warum hältst du nicht irgendwo an, und wir kippen ein bis zwei. Reden über alte Zeiten. Weißt du noch, das mit dem Eispickel?«
Diese schöne Erinnerung hat sie mir längst madig gemacht. Verdorben durch ihr alkoholsüchtiges Schlampendasein. Verfluchte Trinker.
Egoisten sind das.
Von wegen Krankheit.
»Evelyn, bitte, bleib einfach ruhig sitzen, ja?« Ich flehe sie jetzt an, komisch, wie schnell man in alte Muster verfällt. Bitte, Dad. Bleib einfach sitzen. Ich mach dir einen Tee.
Evelyn zieht an ihrem Gurt. »Ich hab ja wohl kaum eine andere Wahl, Dan? Willst du mich entführen?«
»Hey, du bist zu mir gekommen, schon vergessen?«
»Ich dachte, wir könnten ein bisschen Zeit miteinander verbringen. Feiern, so wie früher.«
Evelyn hatte mir damals meinen ersten Schluck Alkohol gegeben. Sherry zum Kochen war das gewesen. Absolut widerliches Zeug, aber es hatte was Glamouröses, ihn aus dem Schrank zu klauen. Inzwischen ist der Lack ab. Die in die Jahre gekommene Frau mit den Flecken auf der Hose hat nichts Glamouröses mehr.
»Du hast genug gefeiert. Wie hast du mich gefunden?«
»Hab deine Postkarten behalten, Dan. Die letzte kam aus Cloisters.«
Blöde Frage. Ich wette, meine aufmunternden Postkarten haben Evelyn super über den Entzug hinweggeholfen.
»Ach so? Du arbeitest also einfach nur die Liste ab.«
Evelyn fährt sich mit den Fingern durch das zerzauste Haar, blickt in den kleinen Spiegel in der Sonnenblende. »Junge, du stehst ganz oben auf der Liste.«
»Brauchst du keine Hilfe?«
»Doch, ich brauche Hilfe, sieh mich doch an. Und ich werde mir auch welche besorgen, vielleicht in ein, zwei Jahren. Erst ist aber noch ein bisschen feiern angesagt.«
Evelyn reibt sich über die trockene Haut unter einem Auge, dann dämmert ihr, dass die Reise ein Ziel hat. »Dan, wo bringst du mich hin?«
»Nach Hause«, sage ich und biege rechts ab zum Central Park South.
Ich rechne damit, dass Evelyn ausflippt, schreit und wild um sich schlägt, ihren verstorbenen Vater verflucht und schwört, lieber sterben zu wollen, als noch einmal einen Fuß in das verdammte Apartment zu setzen, in dem sie durch eine eiskalte Hölle ging. Aber Evelyn zittert lediglich, als hätte sie gerade zum ersten
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