Hinterland
unterhalten wollen, die langsam fror und an den Oberschenkeln und Armen Gänsehaut bekam, besser wäre es, zu
schweigen und die Tagesdecke über ihren schönen Körper zu ziehen. Und er tat es. Von Miesmuscheln im goldbraunen Breiteig
erzählte er also nicht, aber von dem Jungen, der ihm Kardamomkaffee eingeschenkt hatte in ein Täßchen, in alter Zeit war es
Brauch, die Kosten für das Hochzeitsfest zu übernehmen, wenn man das Täßchen auf den Tisch stellte, stattes dem Jungen mit der umgehängten Schnabelkanne in die Hand zu drücken; war der Junge schon verheiratet, mußte man einen
Goldtaler in das Täßchen legen. An diese Bräuche hielt sich heute niemand, und nur die Hügelwilden, die ein wunderbares Türkisch
sprachen, blieben manchmal mitten im Schritt stehen, ein sanfter Wind umwehte ihren ausrasierten Nacken und ließ sie sich
an Vaters Sitten erinnern.
Aneschka hörte Laute und Wortfetzen von der Straße, die Autos fuhren langsam an dem übermannshohen Bretterzaun der Baustelle
vorbei, den müden Männern auf den Balkonen trieb der Staub in der Luft Tränen in die Augen. Wenn mir der Koffer geklaut wird,
verlier’ ich fast meine ganze Garderobe, sagte sie, das wäre ein sehr effektiver Diebstahl, und sie räkelte sich unter der
Decke und kroch darunter, weil der Nachbar Löcher in die Wand bohrte, er ehrte Vaters Sitte der Mittagsruhe und ließ aber
nicht unnötig Zeit verstreichen, um einer seltsamen Arbeit nachzugehen. Sie hatten also dieses Apartment in der Schwedter
Straße für zehn Tage gemietet, und kaum war der zweite Tag zu einem Dreiviertel vergangen, kam ihr Liebhaber und überreichte
ihr einen Strauß Wiesenblumen, er sprach über dies, sie sprach über das, und während die Liebenden vorsichtige Worte dieser
Zeit nach der Entzweiung fanden, zertrat der Sohn des Obsthändlers zwei Parallelstraßen weiter Kartons und Kisten, in seinem
Kopf hatten sich andere Worte festgesetzt, und wenn nicht bei jedem Tritt, so doch bei jedem dritten flüsterte er: Morgen
ist kein Untergang. Er war der Unterweisungen seines Vaters überdrüssig, das Echte sollte er nicht verraten und das Gute nicht
verbessern; hier, in der Kastanienallee, da sich die Frauen in den Farben des Sommers kleideten, war es ratsam, sorglos zu
erscheinen, und doch versteckte er seine Augen nicht hinter einer Sonnenbrille, und doch sann er bei jedem fünften und sechsten
Tritt darüber nach, ob es nicht falsch klang, was er dem Kunden gesagt hatte. Der Kunde: Alles gut?Er, der Sohn: Ja. Liebe klappt. Leben klappt. Geschäfte werden besser … Fast alles gelogen. Vor Zorn trat er besonders heftig
zu, und er flüsterte wieder, daß morgen kein Untergang wäre, jetzt fragte der Kunde einen Mann: Ist der Kragen ab?, da flitzte
eine französische Bulldogge mit Fledermausohren hinter einem Stromkasten hervor, nein, es war ein Terrier mit einem Plastiktrichter
am Hals, er ließ sich von den Tritten nicht verängstigen, im Gegenteil, er schnupperte an seiner Schuhspitze. Als sein Herrchen
ihn bei seinem Namen rief, mußte der Sohn des Obsthändlers grinsen, Mücke hieß der Terrier, Mücke wie die Fruchtfliege über
der einzigen halben Wassermelone, die nicht in dünne Plastikfolie eingewickelt war.
Und während der vierzehnjährige Sohn eines kroatischen Obsthändlers den Ruf seines Vaters aus dem Laden vernahm und sich zwang,
sorglos zu erscheinen, obwohl die Gedanken und Ideen in seinem Kopf ausliefen in seinen Körper, saß der geknebelte Einbrecher
in Coras Wohnzimmer und sah ihr dabei zu, wie sie schnipsen übte. Sie ahmte mit den Fingern eine Kastagnette nach, in seinen
Ohren klang es, als bräche man zehn Salzstangen im Bund in der Mitte entzwei. Sie hatte ihm den Mund netterweise nicht zugeklebt,
er konnte also nach Herzenslust schreien, aber er würde doch nur andere auf sich aufmerksam machen. Der Himbeersaft hatte
ihn nicht wirklich erfrischt, er war nur froh, daß der gewalttätige Ausländer nicht länger bei ihm stand – der Mann jagte
ihm eine große Angst ein, er hatte Saft auf seine Haare geschüttet und sie mit bloßen Händen nach vorne frisiert, um ihn,
wie er sagte, zu bestrafen.
Plötzlich hörte Cora auf zu schnipsen, und sie sagte: Wenn ich dich hier bei mir behalte, mache ich mich der Gefangennahme
fremder Mitmenschen schuldig. Es fehlt noch, daß man mich einbuchtet. Ich lass’ dich frei, hörst du, du bist kein gebürtiger
Berliner, woher kommst
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