Hiobs Brüder
bevor er ein zweites Mal zu Josua ben Isaac gegangen war, um sich auf die Suche nach seinem Gedächtnis zu machen, hatte er sich Abend für Abend betrunken, und die schmerzhaften Folgen hatten ihn Vorsicht gelehrt.
Oswald war derjenige, der an einem lausigen Kater litt, als sie am nächsten Morgen aufbrachen. Jammernd saß er auf dem Bock des Karrens, den sie von den Bauern geborgt und vor den sie die duldsame Marigold gespannt hatten, und hielt sich den Kopf. »Es tut so weh, Losian.«
»Ich weiß.«
»Und mir ist so schlecht.«
»Dann tu uns beiden den Gefallen und versuch, nicht auf deine Kleider oder Schuhe zu spucken.«
»Jetzt bist du auch noch gemein zu mir«, beklagte Oswald.
»Ich habe dich gewarnt«, erinnerte Alan ihn. »Ich habe dir gesagt, du hast genug, aber du musstest ja unbedingt weitertrinken. Jetzt bekommst du die Folgen zu spüren. Da kann man nichts machen.«
Oswald schwieg beleidigt.
Die Gewitter des Vortages hatten die Schwüle vertrieben, und der Morgen war klar und frisch. Anfangs war der weite Himmel über dem Flachland noch grau gewesen, aber als sie zwei Stunden unterwegs waren, zehrte die Sonne die Hochnebeldecke auf und kam wieder zum Vorschein. Trotzdem wurde es nicht heiß. Es war herrliches Reisewetter.
Aber Oswald konnte ihm nichts abgewinnen. »Die Sonne verbrennt mir den Kopf, Losian. Sie kocht mich!«
»Siehst du da vorne? Da fängt der Wald an. Da ist es schattig. Keine halbe Meile mehr.«
»Aber mir ist so schlecht.«
Alan seufzte.
»Und ich hab Angst vor dem toten Mann in der Kiste. Er hat keinen Kopf.«
Alan, der neben ihm einherritt, sah ihn forschend von der Seite an. »Woher weißt du das?«
»Die Leute haben drüber geredet. Getuschelt. Ich sollte es nicht hören, glaub ich.«
Sie mussten verdammt laut getuschelt haben, wenn Oswald sie verstanden hatte, denn der Junge war schwerhörig. Alan nahm an, dass ein paar der jüngeren Burschen aus Blackmore sich einen Spaß daraus gemacht hatten, dem seltsamen zurückgebliebenen Gefährten ihres Gutsherrn ein bisschen Angst einzujagen.
»Und hast du auch gehört, wer ihn getötet hat?«
»Du. Mit dem Schwert. Zack!, und runter mit dem Kopf. Schneller als ein geölter Blitz, haben sie gesagt.«
Alan hätte viel darum gegeben, wenn Oswald das nie erfahren hätte. »Wenn es so war, denkst du nicht, du solltest eher vor mir Angst haben als vor ihm?«
Oswald schüttelte den Kopf, kniff gequält die Augen zu und hielt sofort wieder still. »Ich hab keine Angst vor dir«, antwortete er mit Nachdruck. »Du tötest nur böse Männer.«
Jesus, wie ich wünschte, das wäre wahr … »Nun, unser kopfloser Freund hier war lebendig jedenfalls furchteinflößender als tot, so viel ist sicher. Jetzt ist nichts Gruseliges mehr an ihm. Er ist einfach nur tot, das ist alles.«
»So wie Jeremy?«
»Richtig. Du erinnerst dich an Jeremy?«
»’türlich.«
Alan, der über das Wunder des menschlichen Gedächtnisses vermutlich mehr nachgedacht hatte als über irgendetwas anderes, durchschaute nie so recht, wie Oswalds Erinnerungsvermögen funktionierte. Es hatte große Lücken. Oswald schien nichts mehr von seinen Eltern oder seinem Zuhause zu wissen, und wenn man ihn nach der Zeit vor der Insel befragte, wurde er einsilbig und vage, nannte einen Namen oder einen Ort, aber es war unmöglich, seine Vergangenheit zu ergründen, denn er hatte sie verloren. Doch manchmal erinnerte er sich an die erstaunlichsten Details von Vorfällen, die Monate oder gar Jahre zurücklagen und die alle anderen längst vergessen hatten.
»Und weißt du auch noch, wie der bucklige Zwerg hieß?«
»Wulfstan.«
»Und der alte Knabe, mit dem Wulfstan die Hütte geteilt hat?«
»Griff. Er ist gestorben. Simon hat seine Decke bekommen.«
Alan nickte. »Aber du hattest keine Angst vor Griff, als er gestorben ist, oder?«
Oswald dachte einen Moment nach. »Nein«, stimmte er dann zu.
»Na siehst du. Also brauchst du dich vor dem Kerl in der Kiste genauso wenig zu fürchten.«
Oswald gab ihm recht, lächelte matt und erbrach sich dann ohne jede Vorwarnung auf seinen Kittel.
Alan wandte den Kopf ab und stützte einen Moment die Stirn in die Hand. »Fabelhaft, Oswald. Einfach großartig …«
Oswald fing an zu heulen, und Alan verspürte nicht den leisesten Drang, ihn zu trösten, denn er würde die Ehre haben, Oswalds Kleider auswaschen zu dürfen. Und so war er vollauf damit beschäftigt, sich zusammenzureißen und nicht zu sagen: Warum musst du so
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