Hiobs Spiel 1 - Frauenmörder (German Edition)
den Gefahren der Tageswelt noch andere Wesen, andere Menschen geben musste, die frei und wild rennen und atmen konnten und um die Unbesiegbarkeit des Sterbens wussten.
Sie las das Headpress -Magazin mit seinen Exploitationen von Nekrophilie und kinky sex und fand nichts zwischen den Zeilen als Nekrophilie und kinky sex . Sie besuchte die Lesungen von abgefuckten Untergrundpoeten, aber alle erinnerten sie nur an Arne und die kraftlosen Texte, die er verfasst hatte, als er noch kein Vampyr gewesen war. (Mittlerweile war Arne übrigens nach einer kurzen, auch kommerziell hochverwertbaren Phase der Kurzprosaproduktion in eine Art glückliches Analphabetentum zurückgesunken, und Bernadette war froh darüber.) Sie lugte in die schwülen Performances todessehnsüchtiger MasochistInnen, die sich seufzend mit Brandeisen traktieren ließen, und fand darin keine Wahrheit außer der der verzweifelten Suche nach Innerem. Sie wiegte sich leer im Takt von DeathSpeedMetalTrash’n’Grindcore-Bands, abwesend beworfen mit Stagedivern, bedeckt von den nassen Haarflaggen der laut- und gesichtslosen Headbanger, klumpige Bässe in der hungrig leeren Gebärmutter. Wenn sie nicht schlafen konnte, ließ sie sich im matten Licht der Mittagsstunden – wie Dirk-Daniel von der U-Bahn – von den Bürgersteigern treiben, von südländischen Männern zum Eis einladen, jagte spielenden Kindern hinterher und durch sie hindurch und starrte stundenlang aufs vorbeitreibende Wasser des Landwehrkanals.
Schließlich fand sie so eine Art Antwort in einer kleinen Wilmersdorfer Straßenfrontgalerie, bei der Vernissage eines jungen unbekannten Malers, der sich Irazoqui nannte. Sie war nicht eingeladen und wusste von nichts, aber sie sah in der heraufnebelnden Dämmerung die Lichter in den kleinen bunten Räumen und hörte das angeregte Murmeln und Lachen und das Klirren der fadenscheinigen Sekt- und Orangensaftgläser, und sie ging einfach hinein. Als Einzige aus dem Rudel hatte sie sich erst vor zwei Wochen von den Freiluftbügeln einer Second-Hand-Boutique saubere Kleidung geklaut und fiel somit in der multikulturellen, von sich selbst geblendeten Beauty Crowd nicht weiter auf.
Die Bilder waren bunt, wand-einnehmend, wildes Acryl über aufgerautem Autotürmetall oder ölige Schmieren auf groben Pappen, die Farben aggressiv und urzeitlich und von vollkommener Wahrheit. Bernadette taumelte vor Erstaunen. Auf einer dunkelblau und schwarz gehaltenen Fläche vermeinte sie das bleiche Starren eines Toten zu sehen, ein negroider Zombie aus einem Sommernachtstraum von Jacques Tourneur, und das Wesen hatte die eine Hand so verdreht erhoben, als warte es darauf, dass Blut auf seinen Fingernägeln trockne. Ein anderes Bild detonierte in einer zischelnd gelben Masse, die aber doch nichts anderes war als der gekrümmte Korpus eines Mannes, den unbeschreibliche Kräfte in waagerechte Fetzen rissen. Als Bernadette sich umdrehte, zerbrach ein anderer Mann, schreiend die Hände ins Medusenhaar gewühlt, gellend in der Mitte und drehte sich in einer fast schwarzen Kapriole tobend auf sie zu. Bernadette wich aus und hebelte dabei einem mozartbezopften Kenner seinen eigenen seichten Sekt auf den Einreiher. Sie entschuldigte sich fahrig, und er nickte mit geblähten Nüstern, von dieser Art der Annäherung begeistert. Hinter einer sich unter dem Eigengewicht biegenden Wand fand sie das Bild mehrerer in Blut badender querschnittsgelähmter Mädchen, die als solche unter all den ineinandergerührten Farben kaum zu erkennen waren und die von einem davorstehenden Pärchen auch prompt als »interessante, abstrakt abgeschrägte Basisfläche« interpretiert wurden. Bernadette wischte sich über die Augen, drehte sich langsam, wie fürchtend, um und schaute direkt in die Hölle. Das war sie, dort, so, wie sie sich sie immer vorgestellt hatte, ein unglaublich laut und tief rumorender Exzess von rasend ineinandergekeilten Rot- und Brauntönen, eine klamme, schweißtreibende Kälte verströmend – die Hölle, der Tod, das Paradies, Seelenorgasmus und Sinnleere, alles ineinandergekippt aus jahrtausendealten Eimern von einem ... von einem ... ja – wer malte so? Ein käferbewachsener Fakir aus einem tiefen Höhlenschacht? Ein drogenimplodierter Cyberträumer in einem aus Messing und Reifengummi gegossenen Brustpanzer? Oder einfach ein echter Dämon, der Erste ihres Lebens?
Die Antwort war so einfach nahe wie alle ihre Antworten im letzten Jahr, und sie ging näher heran. Der
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