Hiobs Spiel 2 - Traumtänzer
einatmen. Er war eigentlich erst wenige Sekunden unter Wasser, aber sein Körper schien jedes Fünkchen Sauerstoff in seiner Lunge und in seinem Blut mit zeitgeraffter Hektik zu verbrennen, denn jetzt kam wieder dieser Ekel. Jeden Moment würde er zwischen das salzlaugige Leichenfleisch geraten, zur weichen Nekrophilie gezwungen durch eine auf seine Lunge gerichtete mittelalterliche Feldkanone. Er versuchte, Arme und Beine abzuspreizen wie ein Astronaut, der in Schwerelosigkeit durch einen Andockgang schwebt. Die fettigen Betonwände taten abstrakt weh, ließen aber keinerlei Bremsung zu. Hiob hatte die Empfindung, dass der Sog hier drinnen nicht mehr gleichmäßig war, sondern pumpte wie ein Herzmuskel. Sein eigenes Herz begann zu rasen. So unfassbar viel, völlig unerklärliche Angst breitete sich in ihm aus, dass er bis hinab zum tiefsten Grunde seiner Seele zu frieren und zittern begann. Dies hier war beides. Beides zugleich, in beiden Richtungen. Eindringen und Rausschleudern. Der schleimige Sog und das Spucken von Schlieren. Der Anfang. Das Ende. Kleiner warmer Tod. Großer Tod, kalt. Das Pressen. Und das Grab.
Urangst.
Mutter Furcht.
Der allerälteste Reflex. Der tiefste. Höhlen. Mensch. Instinkt.
Über. Leben. Sicherung.
Raus hier. RAUS HIER.
Haschen nach Glauben. Straucheln in Leere. Schrei, Mann, SCHREI.
Schrei unter Wasser. Böse verzerrtes Brüllen. Hiob will sich herumwerfen, will eine Wende in der Enge. Und klatscht mit Wucht tief hinein ins nackte Fleisch der Toten. Plötzlich sind die allerschlimmsten Befürchtungen wahr und übertroffen. Überall sind Zähne und Haare und Fingernägel. Sie fallen über ihn her, gieren nach seiner Wärme, nach allem, was er zu bieten hat. Eine bauchige Pauke dröhnt einen langsamen Rhythmus. Alles hier drin ist in lasziver Bewegung, und hier drin ist noch viel mehr. Blutgeschminkt, Lippen zerbissen offen, zur Fruchtbarkeit noch aufgedunsen, altertümlichen Bildern entsprechende Jugend, abgenabelt, zur Konservierung abgetötet kurz vor Höhepunkt, Schweben, Schleifen und Gleiten, Polonaise und Geschunkel, blasig fadenziehendes Gelächter, Schlangenmenschen extra feucht, Lianenwald, Knochengarten, sich wiegende Schädel im glosenden Tau.
Für einen ganz kurzen Moment sieht Hiob sich selbst, so als wäre eine riesenhafte bulläugige Kamera auf ihn gerichtet und übertrüge sein Bild in alle Wohnzimmer aller auch nur ungefähr bewohnbaren Planeten des Universums. Seht ihn euch an, sagt das Bild. Seht ihn an: Hiob Montag fickt kotzend tote Kinder.
Von hier ab kroch er zurück, ein degradierter Lurch.
Die Finger- und Zehennägel jeweils in die Fugen der Ringsegmente des Betontunnels gekrallt, arbeitete er sich dem Strudelsog entgegen nach draußen, mühsam, an den Algenschleim gepresst und ungelenk. Es dauerte Minuten, aber er nahm gar nicht wahr, dass hinter seinem Inneren jener Kampf tobte, den er eigentlich mit Spannung erwartet hatte: sein Leben, wie in einer kubistischen Intensivstation aufgehängt und angeschlossen in und an den merkwürdigsten Aufrechterhaltungs- und Unterstützungssystemen, die die Niederfrequenzmagie zu bieten hat, während die Zudringlichkeiten von Sterben und Gefolge sich als rasch überbrückte oder ins Abstellgleis geleitete Scherenschnitte und Zuführungsdurchrostungen und sonstige Materialbrüchigkeiten hier und dort darstellten. Alles fließend und abgestimmt ineinandergreifend, weil ja ohnehin aus demselben Stall kommend, ein Freundschaftsspiel eigentlich. Ein ulkiger Krieg, choreographiert von einem Meister des fädenverwirrenden Marionettenspiels.
Unbehelligt vom eigenen Ertrinken erreichte und durchstieß Hiob die Meeresoberfläche und kam so von der Nacht zum Tage. Der Himmel hatte eine merkwürdige, fast schweflige Farbe, aber zum ersten Mal an diesem Tag hatten sich die schweren Regenwolken verzogen und erlaubten der Sonne so, den Dunst da oben wie eine zerkratzte Eisfläche mit Helligkeit aufzuladen. Der Regen hatte aufgehört. Hiob tastete – zittrig jetzt vor Kälte, die Muskeln hartgekrampft – nach dem Metallgestänge. Immer noch saugte das Rohr an seinem Unterleib, streichelte mit Schwimmhäuten an ihm, quengelte und nörgelte herum. Hiob zog sich hoch, ließ Wasser an sich herablaufen, löste sich vom Meer, nahm langsam, entkräftet, Sprosse um Sprosse nach oben und kam dann auf der pfützenübersäten, rauen Oberfläche des Dammes zu liegen. Es war so still hier oben, kein Donnern mehr, kein wütendes Peitschen
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