Hiobs Spiel 2 - Traumtänzer
Gedanken zurücksinken.
Wenn Wilhelm Byhn Selbstmord begangen hätte, hätte er sicherlich nicht nur den Todes-Wochentag, sondern wahrscheinlich auch die genaue Sterbestunde Christi gewählt. Vielleicht sogar genau den nächsten Karfreitag, wenn der Krebs ihm bis dahin noch zu leben erlaubt hätte. Wenn es aber ein Unfall gewesen war oder tatsächlich ein Mordanschlag der Tetema-Loge, dann war es schon ein eigenartiger Zufall, dass Byhn wenigstens an einem Freitag gestorben war.
Am wahrscheinlichsten war eigentlich, dass NuNdUuN seine Finger im Spiel hatte. Nur so war die halb erfüllte Präzision der Todeszeit hinreichend erklärbar. Der große Schattenkhan selbst hatte also dem winzigen Großmeister den tödlichen Schubser versetzt. Machte das nun aber NuNdUuN zu Byhns Mörder? Nein. Denn erstens war Byhn ja sowieso ein Todgeweihter gewesen, und zweitens war er ja noch gar nicht tot, sondern kam wieder. Die ganze Sache hier lief darauf hinaus, dass Hiob selbst seinen eigenen Lehrmeister töten musste. Was für ein gemeines, abgeschmacktes, abgekartetes Spiel.
NuNdUuN lachte sich sicherlich gerade eins, während er das Blut aufopferungsbereiter Seelen aus einem Cocktailglas schlürfte. Hiob wünschte sich in diesem Augenblick, dass irgendein Vasall des Fließes jetzt hinter einem Baum hervorkommen würde, um ihn, den Spieler, mal zu fragen, wie weit er eigentlich zu gehen bereit war. Frage: Wie viele Verbrechen willst du noch begehen, nur um zu gewinnen? Antwort: So viele, wie zum Gewinnen nötig sind.
Als Zante und ihre Mutter anfingen, Händevoll Erde in die Grube zu streuen, flackerte plötzlich die Sonne weg. Die regensatten Wolken waren von ganz erstaunlicher Dunkelheit, dazwischen war der blaue Himmel zu sehen, und so ging es weiter mit dem Tageslicht: an – aus – an – aus. Erstaunliches Wetter fürwahr. Hiob rückte langsam in der Sandkastenreihe auf. Leichter Nieselregen setzte ein, als Hellberger seine Faustvoll Staub pathetisch über das Totenloch hielt, lateinische Phrasen murmelte und langsam den Sand zwischen den Fingern hinabrinnen ließ. Wind wurde langsam stärker, nur wenig von Hellbergers rieselndem Sand traf überhaupt noch die Grube, den Großteil nahm die Witwe in den Falten ihres Kleides mit nach Hause. Als Hiob dann als Letzter fast an der Reihe war, konnte er gefallene Sterne im dunklen Mantelkragen des vor ihm stehenden Trauergastes erkennen – vereinzelte Schneeflocken, die im Niesel herabgeweht waren, auf teurem Stoff hängen blieben und sich zu Wasser verdunkelten. Etliche besorgte Augenpaare beobachteten jetzt den Himmel, so als würde Doug Trumbull sich gerade da oben zu schaffen machen, und so sah es auch wirklich fast aus. Dem Pfarrer war das Toupet an einer Seite abgerissen, und der halb lose Skalp flaggte jetzt kühn im Novemberwind. Zantes Wangen im weißen Antlitz wurden vom kalten Wind ganz rot, wie ein Harlekin sah sie dadurch aus. Hagel setzte ein. Die Sterne fielen jetzt massiver. Hiob griff Erde, sagte »Wir sehen uns«, warf hinab. Dumpf polterte der Sand auf den noblen Frack aus Holz. Die Trauergemeinde begann sich mit wehenden Kleidungen zu zerstreuen, vom wütender werdenden Hagel auseinandergetrieben wie schwarze Schafe von einem Schwarm Albino-Wespen. Unter allgemeinem Kreischen und Fluchen und dem trommelwirbelnden Patschen von Eis auf Regenschirmstoff verlief man sich. Hiob, der nicht immun war noch versichert gegen Hagel, fand sich unter demselben Baum wieder wie Hellberger und seine zerzauste Schar.
Der Druide lächelte, zum offenen Grab hinübersehend. » Wer gibt heute noch etwas für einen gut ausgearbeiteten Tod? Niemand. Sogar die Reichen, die es sich doch leisten könnten, ausführlich zu sterben, fangen an, nachlässig und gleichgültig zu werden; der Wunsch, einen eigenen Tod zu haben, wird immer seltener. Eine Weile noch, und er wird ebenso selten sein wie ein eigenes Leben. Das ist von Rilke. Erstaunlicher Mann, dieser Rilke, aber er hat unseren Großmeister Byhn nicht gekannt. Byhn versteht es immerhin zu gehen.«
Hiob wischte sich Graupel von Brust und Schultern. Er fror jetzt in seinem nassen T-Shirt. »Zufrieden?«
»Ja. Es ist doch alles hervorragend gelaufen. Oder haben Sie etwa Byhn den Sargdeckel zerbrechen sehen?«
»Nein. Sie haben das alles wunderbar hinbekommen, Hellberger. Ich wette, ihre Mutter wäre jetzt stolz auf sie.«
Nach solchen Frechheiten würde sich Hiob beim Druidenorden wohl nicht mehr so schnell sehen lassen
Weitere Kostenlose Bücher