Hiobs Spiel 2 - Traumtänzer
können, aber das war ihm im Augenblick ziemlich wurscht. Er ließ die Brüder unterm Baume stehen und strebte der Trauergemeinde voran auf die Ausgänge zu. Zante schoss dabei von weit von der Seite einen Blick auf ihn ab, der ihm die Schuld an dem lausigen Wetter zu geben schien, und er brachte es fertig zurückzugrinsen. Dass er aus einigem Geschnatter heraushören konnte, dass man jetzt mit diversen Wagen zum Leichenbegängnis im Hause Byhn fuhr, passte ausgezeichnet in seine Pläne.
Er hitchhikte sich nicht in irgendeinem der Trauerautos zu Byhns Haus, sondern begab sich erst mal auf die Suche nach einem Übersetzer. Da am sinologischen Institut der FU am Sonntag sicherlich kein Prof zu finden war, versuchte er es stattdessen einfach in China-Restaurants. Da war die Aussicht auf Hilfsbereitschaft auch ein bisschen höher.
Es gab unnötig langwierige Verhandlungen in mehreren Wirtschaften, weil Hiob sich nicht sicher war, ob die Schriftzeichen im Hause Byhn nun eigentlich kantonesischen oder mandarinischen Ursprungs waren. Die einzige Person, die er fand, die beide Sprachvarianten und auch Deutsch erstklassig beherrschte, war eine junge, unverheiratete Frau namens Ah Yin Lam, deren Vater es aber überhaupt nicht schicklich fand, dass die dahergelaufene Langnase Hiob sie mal so eben für ein oder sogar zwei Stunden mieten wollte. Der Lappenhaufen, den Hiob aus seinen Hosentaschen herausnesteln musste, bis Väterchen Geschäftsmann zufrieden war, betrug satte fünfhundert deutsche Yuan.
Anschließend sputeten sich Hiob und Ah Hand in Hand durch verschiedene öffentliche Nahverkehrsangebote, um noch rechtzeitig auf dem unübersichtlichen Höhepunkt des Leichenbegängnisses einzutreffen. Mutter Byhn war nicht mehr zugegen, hatte sich mit vorgeblicher Migräne oder Trauerschmerz zurückgezogen, Hardy war aufrichtig erfreut, Hiob zum dritten Mal an diesem Tage zu begegnen, und Zantes Wangen wurden wieder rot, als sie ihren Ehemaligen ungeniert mit einer hübschen Asiatin herumlaufen sah. Es war ziemlich voll im Haus des Großmeisters, auch Hellberger trieb sich in der Küche herum und schenkte sich selbst teuren Rotwein nach. Hiob wollte gar nicht viel Zeit verplempern, er nutzte die allgemeine Unaufmerksamkeit aus, besorgte sich den Schlüssel von dort, wo er ihn Hardy heute Morgen hatte hernehmen sehen, pirschte sich mit Ah die Treppe hoch und huschte mit ihr ins Arbeitszimmer.
Alles war immer noch unverändert, es roch sogar immer noch nach Echo.
Ah vertiefte sich mit gerunzelter Stirn in die Rollschrift.
»Das ist eine kleine Episode aus dem Leben und den Lehren des Meisters Dschau-dschou Tsung-schen, der im achten und neunten Jahrhundert gelebt hat. Der Text lautet übersetzt: Ein Mönch fragte: ›Eines habe ich nicht verstanden. Wenn der Leib zerbricht und vergeht, da bleibt doch noch eines – die Seele. Was wird aus ihr?‹ Meister Dschau-dschou antwortete: ›Heute Morgen erhebt sich wieder der Wind.‹ «
Hiob sah Ah erwartungsvoll an. Sie schaute zurück. So verging eine Weile.
»Das ist alles, was da steht?«, fragte Hiob.
»Ja.« Sie deutete eine Verbeugung an.
»Bist du sicher?«
»Ja.« Sie lächelte. »Sie sind nicht zufrieden?«
»Doch ... schon, ich meine, mit deiner Arbeit schon, aber ... nein, ich hatte eigentlich gehofft ... na ja. Heute Morgen erhebt sich wieder der Wind. Das ist doch sehr schön. Hast du ’ne Ahnung, was das bedeuten könnte?«
»Die Bedeutung von Weisheiten des Zen erschließt sich nicht von außen, sondern in jedem Betrachter selbst. Sie müssen darüber nachdenken, dann finden Sie einen Sinn, und der ist dann nur für Sie. Deshalb hatte der Hausherr sich wohl diesen Text an die Tür gehängt. Er hat ihn sich so täglich vor Augen gehalten, wie einen Spiegel.«
»Hm. Heute Morgen erhebt sich wieder der Wind. Das bedeutet, die Seele ist überall. Sie lebt immer wieder aufs Neue und stirbt auch immer wieder und ist dadurch unsterblich. Stimmt’s?«
»Weiß ich nicht. Das ist Ihre Erklärung.«
»Na schön. Lass uns von hier verschwinden.«
Sie huschten gemeinsam hinaus, ohne sich von jemandem zu verabschieden. Selbst Hardy war diesmal nicht schnell genug. Hiob begleitete Ah wieder ins Restaurant ihres Vaters zurück. Unterwegs fragte er sie: »Was würdest du von jemandem halten, der so einen Sinnspruch in seinem Arbeitszimmer hat?«
»Jemand auf der Suche.«
»So beschreiben ihn alle. Auf der Suche nach Weisheit, Wissen, Macht, Überwindung. So war er. So
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