Hippolyt Hermanus 01 - Vino Criminale
keine Zeugen. Die Polizei geht davon aus, dass Eva-Maria zu schnell gefahren ist, das entsprach wohl auch ihrem Naturell.«
Sabrina langte sich an die Schläfen. »Wenn ich mich nur daran erinnern könnte.«
Hipp nahm ihre Hand. »Du wirst dich daran erinnern, irgendwann einmal. Das hat Zeit, das ist nicht wichtig. Es ist alles vorbei.«
»Es ist eben nicht alles vorbei«, widersprach Sabrina. »Jemand versucht mich umzubringen.«
»Morgen fahren wir nach Mailand«, sagte Hipp übergangslos. »Ich habe Karten für die Scala, weil ich weiß, dass du die Oper liebst.«
»Ist das so? Ich liebe die Oper? Was steht auf dem Spielplan?«
»
Othello
von Verdi.«
Sabrina summte eine Melodie, die ihr spontan in den Sinn kam. War das die Ouvertüre? »Ja, könnte tatsächlich sein, dass ich etwas für die Oper übrig habe. Aber jetzt möchte ich gehen und für Eva-Maria eine Kerze anzünden.«
26
E r saß vornübergebeugt am Holztisch, den Kopf in die angewinkelten Arme gestützt, und starrte hochkonzentriert auf ein großes bauchiges Weinglas. Die Farbe des Weines war von einem satten, tiefgründigen Rubinrot, am Rand leicht ins Bräunliche changierend. Er ahnte die verführerische Nase nach reifen Beeren. Er spürte am Gaumen feine Bitternoten und robuste Tannine. Und im langen Finale Noten von dunkler Kirsche. Warum konnte der Wein nur von sich selbst erzählen? Was würde er dafür geben, wenn man mit diesem Weinglas wie bei einer Kristallkugel eines Wahrsagers in die Zukunft schauen könnte? Aber auch wenn er sich noch so sehr anstrengte, erkannte er im Glas nur die Spiegelung der Tür in seinem Rücken. Die Tür? Sie ging plötzlich auf, und eine Krankenschwester kam herein. Er drehte sich erschrocken um. Aber die Tür von seinem Zimmer war geschlossen. Hatte dieses Weinglas doch übersinnliche Kräfte? Nein, natürlich nicht. Seine Gedanken waren nur wieder in jener Nacht, als er bei Sabrina im Krankenzimmer gestanden hatte, fest entschlossen, sie mit einem Kissen zu ersticken. Aber das war, wie sich herausstellte, leichter geplant als getan. Er hatte noch nie jemanden mit kalter Berechnung umgebracht. Kam bei Sabrina erschwerend hinzu, dass er sie mochte. Sie war jung und schön. Deshalb hatte er sich lange in ihrem Krankenzimmer aufgehalten, viel zu lange. Er hatte ihr schlafendes Gesicht betrachtet, war im Zimmer hin und her geschlichen, hatte verzweifelt mit seinem Gewissen gerungen. Er wusste, dass es keine Alternative gab, Sabrina musste sterben. Aber würde er es wirklich schaffen, sie mit den eigenen Händen zu ermorden? Sie würde sich wehren, um ihr Leben kämpfen. Plötzlich war Sabrina aufgewacht. Er hatte zu diesem Zeitpunkt genau hinter ihrem Bett gestanden. Ihm war sofort klar geworden, dass er seine Chance verpasst hatte. Eine Sabrina, die ihn mit offenen Augen ansah, würde er nicht umbringen können. Dann hatte sie den Notruf betätigt …
Er fasste das Weinglas mit zwei Fingern am Stiel und begann es langsam zu drehen. Das Spiegelbild der Tür verharrte immer an derselben Stelle. Jetzt blieb die Tür geschlossen. Sah er da ein Aluminiumwägelchen mit Gummirädern und einer roten Thermoskanne? Er dachte an seinen erneuten Versuch. Gift war etwas für Feiglinge, hatte er gelesen. Nun gut, dann war er eben ein Feigling. Aus sicherer Distanz tötete es sich leichter. Alles hatte zunächst perfekt geklappt, das Schicksal hatte ihm geradezu in die Hände gespielt. Aber dann war irgendetwas schief gelaufen. Warum hatte Sabrina in jener Nacht keinen Pfefferminztee getrunken? Warum nur? Alles wäre längst vorbei und erledigt. Er könnte aufatmen und der Zukunft entspannt und hoffnungsvoll entgegensehen.
Und jetzt? Warum, verdammt noch mal, konnte er nicht in die Zukunft sehen? Was würde passieren, wenn er Sabrina am Leben ließ? Er kniff die Augen zusammen und starrte aufs Weinglas. Blut hatte eine ähnliche Farbe, war aber nicht so dünnflüssig und schmeckte süß. Nein, es gab keine andere Möglichkeit. Sabrina musste sterben, ob es ihm gefiel oder nicht. Nichts und niemand würde ihn davon abhalten. Er holte aus und schlug mit dem Handrücken das Glas vom Tisch. Es zersplitterte, der Rotwein spritzte gegen die weiß getünchte Wand. Er stand auf und betrachtete seine Hand. Sie zitterte nur leicht. Im Zimmer roch es intensiv nach Beeren, nach Wald und Moos, nach frischem Zedernholz. Klebrig rann der Wein in langen Schlieren die Wand hinunter. Schade um ihn.
27
W ie hast du geschlafen?«,
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