Hippolyt Hermanus 01 - Vino Criminale
ein schöner, für ein wunderbarer, für ein göttlicher Ast. Sie würde ihn nie mehr im Leben loslassen. Mit einiger Anstrengung schaffte sie es, ihr rechtes Bein um den Ast zu legen. So, jetzt war sie relativ sicher. Aber wo befand sich Hipp? Sie spähte durch ihre Arme nach hinten und sah ihn immer noch in der Kiste schaukeln. Offenbar langte sein Gewicht nicht, erneut den Baum zu erreichen. Sabrina schloss die Augen, wie sie es als kleines Mädchen immer gemacht hatte, wenn sie sich vor etwas fürchtete. Ja, daran erinnerte sie sich plötzlich. Wenn ein großer Hund auf sie zukam oder ein Auto. Einfach die Augen schließen und an ihr Kinderzimmer denken. Was man nicht sieht, das gibt es nicht, das kann einem nicht gefährlich werden. Kein noch so großer Hund. Ist doch alles nur ein Film. Und ihr Kinderzimmer, das hatte rosafarbene Tapeten, und auf dem Schrank neben dem Fenster saß ein brauner Teddybär und blickte sie mit großen Knopfaugen traurig an.
Sie hörte einen fürchterlichen Schlag, wie von einer riesigen Peitsche, sie hörte Zweige brechen – und weit unter ihr zerschellte Holz auf felsigem Untergrund. Nur die Augen geschlossen halten. Ist alles nur ein schlechter Film. Was man nicht sieht, das gibt es nicht. Sie sah sich als kleines Mädchen mit bloßen Füßen in einem Apfelbaum turnen. In der Veranda saß ihr Vater in einem Schaukelstuhl. Und ihre Mutter, ja, ihre Mutter, eine schöne Frau mit lockigem Haar, sie stand unter ihr und hielt sie fest, damit der kleinen Sabrina nichts geschah.
44
B evor Mira Pertini ihren Mann im Krankenhaus besuchte, lief sie ziellos durch die Altstadt von Siena. Dass sie sich damit unter die vielen Touristen begab, die mit dem Reiseführer in der Hand den Weg vom Palazzo Pubblico über die Piazza del Campo hinauf zum Dom Santa Maria Assunta suchten, nahm sie überhaupt nicht wahr. Zu sehr war sie mit ihren Gedanken bei Luca. Vor dem Fonte Gaia stehend, wo alljährlich der legendäre Palio gestartet wurde, dachte sie an den beklagenswerten Gesundheitszustand ihres Mannes. Die halbseitige Lähmung nach seinem Schlaganfall besserte sich nur langsam. Die Ärzte machten ihr wenig Hoffnung, dass er je wieder würde normal gehen und sprechen können. Warum nur bürdete der Herrgott ihr eine solch schwere Prüfung auf? Zunächst der Unfalltod ihrer geliebten Tochter Eva-Maria, dann der Schlaganfall ihres Mannes und nun auch noch die Probleme mit der Tenuta. Wie nur sollte eine schwache Frau mit alldem fertig werden? Sie drehte sich um und sah hinüber zum Torre del Mangia. Am liebsten würde sie sich von diesem über hundert Meter hohen Turm hinunterstürzen auf die Piazza del Campo – aber das wäre nicht nur eine Todsünde, sondern damit würde sie auch ihren Luca gerade dann im Stich lassen, da er sie im Leben am meisten brauchte.
Einige Minuten später kniete sie in der Basilika San Domenico und betete dafür, dass sie die richtige Entscheidung traf. Nun, entscheiden musste Luca schon selbst, Gottlob war er dazu imstande, aber es lag an ihr, ihn entsprechend zu beeinflussen. Hoffentlich gelang es ihr, ihm die neuen Nachrichten schonend beizubringen. Das war am wichtigsten, schließlich durfte sich Luca nicht aufregen. Wie würde er es aufnehmen, dass ihr langjähriger Kellermeister gekündigt hatte und ausgerechnet zu diesem Tedesco wechselte? Dino hatte doch schon fast zur Familie gehört. Und dass ihnen die Banca Agricultura den Kredit gekündigt hatte, das würde Luca ebenso wenig verstehen. Schließlich war der Sachbearbeiter ein alter Schulfreund von ihm, aber die Anweisung kam von ganz oben, da konnte Alberto nichts machen. Ohne diesen Kredit war ihre Tenuta nicht überlebensfähig, das wusste sie, schließlich hatten sie im letzten Jahr nächtelang diskutiert, ob sie das Risiko eingehen sollten. Aber um wettbewerbsfähig zu bleiben, brauchten sie nun mal neue Gärtanks aus Edelstahl und mit Kühlung, außerdem einen großen Fasskeller, in dem sich die Luftfeuchtigkeit regulieren ließ. Das alles kostete Geld, viel Geld. Und dann kam diese katastrophale Weinernte im letzten Jahr, die aufgrund des Frostes im April und der reichlichen Regenfälle im Spätsommer eine so schlechte Qualität brachte, dass sie den meisten Wein als Rosso di Montalcino* würden verkaufen müssen. Leider brachte nur der teure Brunello* wirklich Geld. Sie bekreuzigte sich. Santa Maria, in nome del Padre …
Mira saß am Krankenbett und hielt Lucas Hand. Seine rechte Gesichtshälfte
Weitere Kostenlose Bücher