Hippolyt Hermanus 01 - Vino Criminale
sie.
»Einige Meter unter dir. Ich hänge kopfüber in den Zweigen, sehr erbaulich.«
»Aber wie …?«
»Ein Akt der Verzweiflung. Ich bin kurz entschlossen aus dem Kasten Richtung Baum gehechtet. Übrigens keine Sekunde zu früh, unmittelbar danach hat sich unser Lift in seine Einzelteile zerlegt.«
Sabrina schluchzte. »Ich bin so glücklich.«
»Und mir sinkt langsam, aber sicher das Blut in den Kopf.«
»Ich kann mich an meine Kindheit erinnern. An meine Mutter unter einem Apfelbaum.«
»Tatsächlich?«
»Ja, und an meinen Vater im Schaukelstuhl.«
»Wunderbar, dann ist unser Survivaltraining ja sogar von Nutzen. Aber …«
»Ja?«
»Ich würde unsere Konversation gerne zu einem späteren Zeitpunkt fortsetzen. Zunächst sollten wir versuchen, heil von diesem Baum runterzukommen.«
»Ich lasse diesen Ast nie mehr los.«
»Wirst du wohl müssen. Ich sehe zwar alles auf dem Kopf, außerdem unscharf, weil ich meine Brille verloren habe, aber wenn ich mich nicht täusche, ist direkt unter deinem linken Bein ein weiterer dicker Ast. Da könntest du dich draufstellen.«
»Und wenn du dich täuschst?«
»Vertrau mir.«
»Schon wieder? Wird langsam zur lieben Gewohnheit. Wo ist dieser verdammte Ast?«
»Ein bisschen nach links, falsch, Entschuldigung, nach rechts, noch ein wenig, ja, jetzt hast du ihn.«
»Geklappt. So, jetzt sehe ich dich. O mein Gott, du hängst ja in den Zweigen wie ein toter Frosch an der Wäscheleine.«
»Mach dich nur lustig. Wir sollten uns beeilen.«
»Warum?«
»Weil man nie weiß, auf welche Ideen unser Freund an der Talstation noch kommt. Außerdem würde ich gerne meine Brille wiederfinden.«
Am Abend saßen Sabrina und Hipp erschöpft, aber glücklich auf dem Balkon ihres Hotelzimmers in Sankt Michael zu Eppan. Ihr tat der rechte Oberarm weh, das linke Knie war bandagiert. Er hatte einige Schrammen an den Händen und Armen, eine von Blut verkrustete Nase, außerdem schmerzte der Rücken. Aber von diesen Malaisen abgesehen waren sie wohlauf. Auch seine Brille hatten sie unversehrt wiedergefunden. Den Nachmittag hatten sie mit der Bergwacht verbracht, mit Sanitätern sowie einigen Gendarmen aus Meran. In diesem Durcheinander hatten sie auch den Pächter der Alm kennen gelernt. Die Polizei war der festen Überzeugung, dass der Materiallift aus purer Altersschwäche zusammengebrochen war. Hipp ließ sie in diesem Glauben. Aus Mitgefühl nahm die Gendarmerie von einer Anzeige wegen unerlaubter Nutzung der Materialseilbahn zur Personenbeförderung Abstand. Als schließlich alle gefahren waren, hatte Hipp erneut die Trümmer inspiziert. Etwa zwanzig Meter entfernt fand er einen verbogenen Kreuzschlüssel. Und wenig weiter einen Wagenheber. Beides zählte nach seiner Einschätzung wohl kaum zur Standardausrüstung Südtiroler Holzfäller oder Liftanlagenbauer.
Mit einem Gläschen Spumante stießen sie auf ihre Wiedergeburt an. Dabei sahen sie sich lange in die Augen, länger jedenfalls, als sie das bisher je gemacht hatten. Die Sonne war bereits untergegangen. Während sie schon im Dunkeln saßen, war der Himmel über der gegenüberliegenden Talseite in rötliches Abendlicht getaucht. Schön war der Blick auf die Silhouette eines Castells. Eigentlich hätten sie für diese Nacht ein Zimmer im Mountainresort Vigilius* reserviert gehabt, ein von Mattheo Thun gestaltetes Refugium zum kontemplativen Entspannen. Aber nach einer Gondelfahrt, die bei diesem Berghotel obligatorisch war, stand ihnen heute wirklich nicht mehr der Sinn. Da zogen sie es vor, im Ansitz Tschindlhof* festen Boden unter den Füßen zu haben.
»Was glaubst du?«, fragte Sabrina.
»Was soll ich glauben?«
»Wer uns nach dem Leben trachtet?« Denn dass sie heute Ziel eines Attentats geworden waren, davon war auch sie fest überzeugt. »Denkst du, es war Bill?«
»Immerhin wusste er, dass wir nach Südtirol wollten. Und womöglich kennt er auch die frühere Alm deiner Mutter. Er käme also theoretisch in Frage.«
»Und praktisch?«
»Wohl eher weniger. Außerdem wissen wir nicht, ob der Angriff primär dir oder mir oder uns beiden gegolten hat.«
»Im Ergebnis zweifellos uns beiden«, sagte sie schmunzelnd, von ihrem bandagierten Knie auf seine malträtierte Nase sehend.
»Da hast du wohl Recht, aber bei militärischen Aktionen spricht man in solchen Fällen von Kolateralschäden.«
»Du meinst, mein armes Knie wäre ein Kolateralschaden?«
»Oder meine Nase, nicht zu reden von meinen zerschundenen
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