Hippolyt Hermanus 01 - Vino Criminale
des historischen Ansitzes aus dem Jahre 1608 hatten sie eine typisch Südtiroler Jause genossen, die an der Etsch Marende heißt, mit Schüttelbrot, Speck und einem hausgemachten Apfelstrudel. Dazu hatten sie die köstlichen Weine von Manincor verkostet, den Sauvignon LiebenAich, den Pinot Nero Mason, die Cuvée Sophie und Réserve del Conte. Beeindruckt war Sabrina auch von der spektakulären Architektur des Weinkellers von Manincor gewesen, der unterirdisch in den Weinberg hineingebaut ist, modernes Industriedesign mit raffinierter Technik verbindet – und doch gleichsam von der Natur wie unter einer Tarnkappe versteckt wird. Dass es bei ihrem Vater im Valley einen ganz ähnlichen Degustationsraum gab, mit einem langen Tisch und mit moderner Kunst, daran konnte sich Sabrina freilich ebenso wenig erinnern wie an ihre Gastgeber, die sie erst vor wenigen Monaten in San Francisco bei einem Abendessen mit ihrem Vater kennen gelernt hatte.
Jetzt fuhren sie über die Weinstraße an Sankt Michael und Girlan vorbei Richtung Bozen, dann über die neue Schnellstraße nach Meran, von dort weiter ins Vinschgau, wo sie hinter Naturns nach rechts auf eine kleine einsame Forststraße abzweigten, die nach wenigen hundert Metern von einem Gatter versperrt wurde. Sie parkten unter Latschen neben einem Marterl mit einer weißen Madonna, stiegen aus und sahen sich um. Sie waren ganz alleine, kein anderes Auto, keine Menschenseele. Schön, diese Ruhe. Sabrina hatte eine Wanderkarte in der Hand, auf der die Alm eingekringelt war, die laut Fax ihres Vaters einst der Familie ihrer Mutter gehört hatte. Irgendwo da oben am Berg war also ihre Mamma geboren. Wie es dort wohl ausgesehen hatte? Etwa so kitschig wie in alten österreichischen Heimatfilmen? Mit einem Geweih am Holzbalken über dem niedrigen Eingang, mit Kühen im Stall, Feuer im offenen Kamin, Gänsen unter dem Küchentisch? Sie fragte sich, ob es so etwas gab wie eine vererbte Erinnerung. Wenn schon ihr eigenes Gedächtnis nicht funktionierte, vielleicht erinnerten sich ihre Gene an diese Umgebung? Wenn sie erst mal oben war, vor der alten Alm stehend über das Tal nach Süden zum Stilfserjoch sehen und die Bergwiese riechen konnte, dann würde sie es wissen.
Wie man ihnen erzählt hatte, wurde die Almhütte bewirtschaftet. Wanderer und Mountainbiker kehrten dort gerne ein. Besucher konnten es sich aber auch einfacher machen und mit einer Materialseilbahn hinauffahren. Das war zwar nicht ganz legal, aber in Südtirol gängige Praxis. An einem langen Stahlseil, das ohne Stütze durch den Wald und über die Berghänge hinaufführte, hing eine große hölzerne Kiste, die eigentlich für Transporte gedacht war, zum Beispiel für die frische Milch, die in ihr allmorgendlich zu Tal gebracht wurde.
Sie zogen feste Schuhe an, schlossen das Auto ab und setzten sich erwartungsvoll in die Transportkiste, die sogar über eine kleine Bank verfügte, damit es die Fahrgäste nicht ganz so unbequem hatten.
»Sieht wenig Vertrauen erweckend aus«, sagte Hipp mit skeptischem Blick auf die abenteuerliche Konstruktion der Talstation, die diesen Namen kaum verdiente und im Wesentlichen aus einem U-förmigen verrosteten Stahlträger, einem Antriebsmotor und einem großen Umlaufrad bestand. Das Ganze wurde mit Stahlseilen, die an Bäumen festgemacht waren, und einigen in den Boden betonierten Winkeleisen mehr recht als schlecht in einer einigermaßen vertikalen Position gehalten. »Jetzt wird’s spannend.« Er drückte auf einen Knopf. Es tutete kurz, der Motor sprang an, und der Lift setzte sich mit erstaunlichem Tempo bergwärts in Bewegung. »Hab ich dir schon erzählt, dass ich Höhenangst habe?«, gab Hipp, der sich am Förderkasten festklammerte, ein Geheimnis preis.
»Wie James Stewart in Hitchcocks
Vertigo?
«, fragte Sabrina neugierig.
»Nicht ganz so schlimm.«
»James Stewart und Kim Novak. Auf Deutsch heißt der Film übrigens
Aus dem Reich der Toten.
«
»Sehr beruhigend, ich danke dir für diesen Hinweis«, erwiderte Hipp.
Schon war die Lichtung, auf der sie das Auto geparkt hatten, entschwunden, auch die Talstation war von tief hängenden Zweigen verdeckt. Dafür kam der Berg immer näher, und es ging zunehmend steiler nach oben. Plötzlich gab es einen scharfen Ruck, das Zugseil blockierte, Sabrina schleuderte nach vorne. Im letzten Augenblick bekam Hipp, der mit der linken Hand guten Halt hatte, sie mit der rechten zu fassen und riss sie zurück in den Transportkasten, der
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