Hippolyt Hermanus 01 - Vino Criminale
man in Betracht zog, dass Sandro ohnehin nicht hätte häufiger gießen können, weil nämlich der Brunnen leer war. Aber auf diese einzig akzeptable Ausrede war er aus nahe liegenden Gründen nicht gekommen.
Auf dem Weg von der Piazza della Cisterna hinauf zu seinem Rustico wurde Hipp bewusst, dass er im Begriff war, in den Trott von vor einigen Wochen zurückzufallen. Lange ausschlafen, unrasiert ins Dorf schlendern, Caffè corretto schlürfen, Cornetto essen, mit Sandro plaudern,
Tirreno
kaufen … Er blieb stehen, drehte sich um und sah über die Hügel hinweg und den flachen Küstenstreifen hinaus aufs glitzernde Meer. Unten am Strand, da tummelten sich die Touristen, kämpften um ihre Liegestühle, einen Sonnenschirm, verbrannten sich auf dem heißen Sand die nackten Füße, wurden von Kindergeschrei malträtiert, mussten schwitzende, fettleibige Artgenossen ertragen. Und hier oben? Da wehte eine leichte Brise, war Vogelgezwitscher zu hören, spendete ein Wald mit Korkeichen Schatten, war keine Menschenseele zu sehen. Und dieser herrenlose Maremma-Hund, der gerade den Weg überquerte, der würde ihm schon nichts tun.
Er dachte einmal mehr über die zwischenzeitliche Unterbrechung seines
dolce far niente
nach. Über jene Wochen, die mit dem panischen Anruf von Sabrinas Vater begonnen hatten. Was wäre passiert, wenn er einfach hier geblieben wäre? Hätten sich die Dinge wesentlich anders entwickelt? Welchen positiven Beitrag hatte er geleistet? Sabrina hätte vermutlich auch von selbst ein klein wenig von ihrer Erinnerung zurückerlangt. Viel mehr war es ja ohnehin nicht. Gianfranco hätte auch ohne seine Präsenz vorbeigeschossen. Den Tod der Nachtschwester Margherita hatte er nicht verhindern können. Und auf Gianfranco als Täter wäre die Polizei wohl auch von selbst gekommen. Wobei sein Motiv immer noch im Dunkeln lag.
Nun gut, er hatte eine Theorie, das schon. Maresciallo Viberti, dem er sie vor einer Stunde am Telefon erläutert hatte, erschien sie überaus schlüssig. Dass nämlich Gianfranco, der, wie sie wussten, eine Schwäche für junge Frauen hatte, Eva-Maria in Liebe zugetan war und mit ihr eine Affäre hatte. Deshalb fand es Gianfranco überhaupt nicht lustig, dass Eva-Maria plötzlich nichts mehr von ihm wissen wollte und sich stattdessen für seinen eigenen Sohn zu interessieren schien. Gekränkte Eitelkeit eines alten Gockels. Als er – gerade von seinem Spaziergang zurückkehrend – die beiden jungen Frauen am Haus vorfahren sah, schwoll ihm, um im Bild zu bleiben, aus wütender Eifersucht der Kamm. Er wusste, dass sie nicht zu ihm wollten, sondern Fabri suchten, der sich gerade in der Cantina aufhielt. Aber er konnte Eva-Maria nicht in Gegenwart seiner Frau zur Rede stellen. Also rannte er zu seinem Auto, das hinter dem Haus geparkt war. Und als Luciana wieder im Haus verschwunden war, nahm er die Verfolgung auf. Er bemerkte, dass sich die beiden verfahren hatten und auf der falschen Straße fuhren. Somit bot sich die Gelegenheit, ihr Fahrzeug zu stoppen und mit Eva-Maria den Streit auszutragen. Er wollte, dass sie zu ihm zurückkehrte und Fabri den Laufpass gab. Wild blinkend und hupend tauchte er hinter den beiden auf. Eva-Maria erkannte Gianfranco in seinem Auto. Aber statt anzuhalten, gab sie Gas und versuchte ihm davonzufahren. Sie wollte der Auseinandersetzung mit dem cholerischen Gianfranco aus dem Weg gehen. Dies erst recht in Gegenwart ihrer Freundin Sabrina. Aber Gianfranco ließ sich in seinem Alfa nicht abschütteln. Stattdessen setzte er kurz vor einer scharfen Kurve zum Überholen an, um vor den Fiat zu gelangen und so Eva-Maria zum Anhalten zwingen zu können. Aber das wahnwitzige Manöver ging schief, Gianfranco geriet ins Schleudern, sein Auto prallte gegen den Fiat und bewirkte auf diese Weise eine tödliche Richtungsänderung. Gianfranco und Eva-Maria stiegen verzweifelt in die Bremsen, die Räder blockierten, gleichzeitig kam die Kurve unaufhaltsam näher. Der Fiat durchbrach die hölzerne altersschwache Leitplanke, flog kurz durch die Luft, schlug im Weinberg auf … Gianfranco bekam sein Auto wieder unter Kontrolle, geriet in Panik, fuhr einfach weiter, hielt später an und sah aus der Ferne, wie das Auto explodierte.
Sollte er zurückfahren, sich der Polizei stellen? Er hatte Eva-Maria nichts antun wollen, im Gegenteil, er liebte sie doch. Wer würde ihm glauben, dass es ein Unfall war? Sein Leben lag von einem Augenblick auf den anderen in Trümmern vor ihm. Er
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