Hippolyt Hermanus 01 - Vino Criminale
hatte alles zerstört, was ihm lieb und teuer war. Er hatte Eva-Maria verloren, er würde ins Gefängnis müssen, zumindest wegen fahrlässiger Tötung angeklagt werden, seine Eskapaden würden bekannt werden, Luciana würde sich scheiden lassen – und er würde sich nicht mehr um seinen Wein kümmern können. In seiner Verzweiflung trat Gianfranco die Flucht an, fuhr einfach weiter, nur weg, schnell weg vom Ort des Grauens. Als er später die Nachrichten hörte, Fernsehen sah, die Zeitung las, realisierte er, dass ihn niemand gesehen hatte, dass offenbar kein Verdacht auf ihn fiel. Heimlich fuhr er zurück zum Haus, holte sich einige persönliche Dinge, legte den Ehering in die Schatulle – und verschwand. Es sollte einige Tage dauern, bis ihm klar wurde, dass er durchaus in sein altes Leben zurückschlüpfen könnte. Er musste nur die einzige Zeugin beseitigen – Sabrina. Und zwar bevor sie ihr Gedächtnis wiedererlangte. Bis dahin würde er gegenüber seiner Familie sein Fernbleiben als Lebenskrise inszenieren, sich gelegentlich melden und seine mögliche Rückkehr in Aussicht stellen. Aber noch hatte er Skrupel, ging zu zögerlich ans Werk, brachte es nicht fertig, Sabrina mit dem Kopfkissen zu ersticken, und hatte dann Pech mit der Blausäure. Er tröstete sich mit zwei Nutten in Venedig, nahm wieder ihre Spur auf, verfolgte ihn und Sabrina nach Südtirol, scheiterte erneut, diesmal mit seiner Attacke auf die Materialseilbahn. Die Zeit lief ihm davon, in der Toskana bot sich die letzte Chance, er setzte alles auf eine Karte, nahm sein Jagdgewehr – und verfehlte das Ziel.
Hipp hatte sich auf einen Baumstumpf gesetzt und dieses Szenario erneut durchgespielt. Ja, so oder ganz ähnlich könnte es sich zugetragen haben. Viberti jedenfalls hatte diese Theorie überzeugt. Der Maresciallo hatte nur bedauert, dass er nicht selbst auf diese »Teoria indiscutibilmente logica« gekommen war. Aber war das wirklich die Wahrheit? Wie passte Giovanni Martino ins Bild? Eva-Maria hatte ihm vor kurzem den Laufpass gegeben. Vielleicht, weil der alte Gianfranco darauf bestanden hatte? Ja, das könnte sein. Aber warum sollte sich ein junges hübsches Mädchen wie Eva-Maria mit einem Mann einlassen, der ihr Vater sein könnte? Für Viberti wäre dies wohl kein Gegenargument. Der Maresciallo war ja auch nicht viel jünger, fand aber seine Wirkung auf junge Frauen überwältigend. Hipp musste schmunzeln. Er machte Viberti gerade viel Arbeit, hatte er ihn doch bei der anstehenden Aufklärung der Lkw-Diebstähle eingespannt. Aber er hatte ihn richtig eingeschätzt. Wenn sich die Chance bot, sich mit einer erfolgreichen Polizeiaktion auszuzeichnen, vermochte der Maresciallo durchaus Antipasti misti, Tajarin mit Zucchini und Panna cotta hintanzustellen – jedenfalls für einen überschaubaren Zeitraum.
Er erhob sich und setzte seinen Weg fort. Nun, immerhin war es ihm gelungen, hinter das Rätsel dieser Weindiebstähle zu kommen. Blieb wenigstens ein kleines Erfolgserlebnis. Wobei ihm durchaus bewusst war, dass er nicht allzu viel dazu beigetragen hatte. Der Zufall hatte ihm die Lösung auf einem silbernen Tablett serviert. Ach ja, es gab noch etwas Positives zu registrieren, nämlich die Tenuta del Leone. Hier hatte er hoffentlich ein gutes Werk getan, indem er verhindert hatte, dass dieser großspurige Lausitz Mira und Luca über den Tisch zog. Aber abgesehen davon? Er griff wieder seinen ursprünglichen Gedanken auf. Wie hätten sich die Ereignisse entwickelt, wenn er nicht zu Sabrina nach Turin gefahren wäre und stattdessen einfach in seinem Liegestuhl weitergeschlafen hätte? Einen entscheidenden Punkt hatte er fast übersehen. Ihm wäre Sabrinas Bekanntschaft entgangen, und damit hätte er einige wunderschöne Augenblicke verpasst. Momente der Nähe, des Glücks, der erotischen Spannung. Aber was hatte es mit dieser Beziehung auf sich? Sie war nicht mehr als eine flüchtige Episode. Wieder in Amerika, würde Sabrina schnell in ihr altes Leben zurückfinden und die unglückselige Reise nach Italien und damit auch seine Person verdrängen. Das war richtig so, schließlich ging das Leben weiter. Blieb zu hoffen …
Er fischte das summende Handy aus seiner Jackentasche und meldete sich. Gab es so etwas wie Gedankenübertragung?
»Sabrina, schön, deine Stimme zu hören. Hattest du einen guten Flug?«
»Hallo, Hipp, mein Lieber, ja, der Flug war okay. Wie geht es dir?«
»Mir geht’s gut, danke«, antwortete er, nicht
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