Hippolyt Hermanus 02 - Toedlicher Tartufo
einfach treiben und vom Schicksal überraschen lassen? Oder war es klüger, den Lauf der Dinge aggressiv zu beeinflussen, mutig und kompromisslos? Nach seiner festen Überzeugung gab es kritische Momente im Leben, kurze Augenblicke nur, Wimpernschläge, die nicht vorhersehbar waren, die aber über die Zukunft entschieden und in denen man die richtigen Entscheidungen treffen musste. Diese waren unumkehrbar und in ihren Auswirkungen erst aus zeitlicher Distanz im Rückblick abzuschätzen.
Amedèo Steinknecht überlegte, ob das jetzt so ein kritischer Moment war. Ein kleines Zeitfenster, das über seine Zukunft entschied. Er hatte eine anspruchsvolle Frau geheiratet, eine Mailänderin, die ein unglaubliches Talent im Geldausgeben hatte. Sein Riva-Boot auf dem Comer See, die Villa mit Swimmingpool, das Internat seines Sohnes in England, die Mitgliedschaft im Golfclub, die gemietete Cessna für die Wochenendausflüge zu ihrem Haus auf Sardinien – all das kostete Geld, viel Geld. Deshalb beglückwünschte er sich zum Tod seines Geschäftspartners und Freundes Rettenstein. Steinknecht konnte sich eines Grinsens nicht erwehren. Die Wege des Herrn sind unerforschlich.
Er neigte den Kopf und betrachtete Paganinis Grabstein. Was würde ihm der Teufelsgeiger raten? Steinknecht dachte an das Gespräch, das er erst gestern mit Ugo Zorzi geführt hatte. Dieser hatte sich von ihm erfolgreich manipulieren lassen. Von selbst war er auf die Idee gekommen, den Wert ihrer Firma nach unten zu korrigieren, und zwar gegen null. Ein perfekter Winkelzug, um Rettensteins Anteile quasi umsonst übernehmen zu können. Ein erster Schritt zu einem größeren Wohlstand im Leben. Allerdings hatte Ugo übersehen, dass ein zweiter Schritt denkbar wäre, der ihm einen noch größeren Wohlstand bescheren würde. Amedèo Steinknecht kicherte und gab Paganini mit den Händen den Auftakt für ein Solo. Er zog die Augenbrauen nach oben. Nichts zu hören! Paganini verweigerte sich. Ein zweiter Schritt? Nun, wenn mit Ugos Hilfe die Bücher so korrigiert waren, dass ihre gemeinsame Firma auf dem Papier nichts mehr wert war, dann konnte er nicht nur Rettensteins Anteile vom Nachlassverwalter oder seinen Erben billig erwerben, nein, auch Ugo Zorzis Anteile waren nichts mehr wert und ebenso günstig zu haben – vorausgesetzt, auch er wäre unglückseligerweise dahingeschieden! Steinknecht begann erneut zu dirigieren. Jetzt glaubte er Paganinis Stradivari zu hören, erst ganz leise, dann immer lauter und eindringlicher, sich zu einem furiosen Finale steigernd.
13
H ippolyt Hermanus hätte wohl bis mittags geschlafen, wäre er nicht vom Handy geweckt worden. Sabrina war dran, die ihm mit spöttischem Unterton einen guten Morgen wünschte, nach dem Wetter fragte, ob sein Alfa noch gehe, was er herausgefunden habe und wann er zurückkomme. Entschieden zu viele Fragen auf einmal! Weil er eine Antwort schuldig blieb und stattdessen unüberhörbar gähnte, entwickelte Sabrina spontan die Idee, ihn in Alba zu besuchen. Sie habe Lust auf Agnolotti, aber bitte ohne Trüffeln. Wie er wisse, könne sie sich mit dem intensiven Duft nicht anfreunden. Hipp erinnerte sich an das gestrige Mittagessen mit Viberti. So viel stand fest, auch er würde heute auf Trüffeln verzichten. Weder auf Tagliatelle noch im Espresso! Im Espresso? Er entschuldigte sich, ging ins Bad und hielt den Kopf unter das kalte Wasser.
So, nun war er annähernd wach. Er gab Sabrina einen kurzen Lagebericht. Auch dass heute die Sonne scheine, konnte er mit einem Blick aus dem Fenster bestätigen. Er freute sich, Cabrio-Wetter, er sollte einen Ausflug machen. Der Vorschlag mit dem Besuch sei ausgesprochen lieb, sagte er, aber wahrscheinlich komme er schon in wenigen Tagen zurück in die Toskana. Dann hätten sie mehr Zeit füreinander. Ob er schon attraktive Damen kennengelernt habe, wollte sie wissen. Hipp dachte an Maria Battardi und konnte diese Frage guten Gewissens verneinen. Er versprach, sich später wieder zu melden. Buona giornata, ciao, un bacino!
Eine gute Stunde später stand Hipp vor der geöffneten Kühlerhaube seines Alfas und betrachtete ratlos den Motor. Warum sprang seine Giulietta heute nicht an? Bei herrlichstem Wetter! Alle Kabel und Schläuche schienen am Platz. Die Batterie war nagelneu.
»Bella macchina, ma molto delicata.« Hipp drehte sich um. Noch keine attraktiven Damen kennengelernt? Jetzt sollte ihn Sabrina besser nicht mehr fragen. Allerdings, die junge Signorina, die
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