Hirngespenster (German Edition)
so herrlich in der Sonne funkeln und die Luft so gut riecht. Alles erinnert an früher, und bei diesem Gedanken fange ich an zu weinen. Wird es jemals wieder so wie früher werden? Sabina beugt sich besorgt zu mir herunter und fragt: »Was hast du denn? Findest du es nicht schön hier draußen? Ist dir vielleicht kalt?« Sie legt mir eine warme Decke über, die ich unter Tränen dankbar annehme. Schon geht es mir besser, es war tatsächlich etwas kalt. Ole macht sich einen Spaß, setzt mir seine Baseballkappe auf und lacht über meinen Protest. Dann wirft er mir seinen Ball zu, der mit einem Plumps auf meinem Schoß landet. »Ole, tu ihr nicht weh!«, ruft Sabina, dann nimmt sie mir den Ball vom Schoß und die Kappe vom Kopf. Ich lache laut. Warte nur, bis ich wieder laufen kann, Schätzchen. Dann hole ich dich!
Nachdem Johannes und ich das Abitur bestanden hatten, begann er sein Chemiestudium in Darmstadt und ich mein Germanistikstudium in Frankfurt. In der Schule hatte ich in der Schülerzeitung mitgewirkt und wollte beruflich unbedingt etwas in dieser Richtung machen, vielleicht bei einer Zeitung arbeiten wie mein Vater. Obwohl er dort nur in der Buchhaltung tätig war – wenn er von den Journalisten erzählte, bekam ich Sehnsucht nach diesem Beruf. Und ein Studium würde mir auch genügend Zeit für Reisen geben, die Johannes und ich planten. Australien wollten wir bereisen, und Asien.
Anna schmollte, weil ich studieren wollte. »Silvie bekommt sehr viel länger Geld von euch als ich«, argumentierte sie eines Abends beim Essen. »Als ich in Silvies Alter war, habe ich schon seit drei Jahren mein eigenes Geld verdient. Ich habe 600 Mark verdient, während sie nur Geld kostet. Ich fände es nur fair, wenn ihr mir die Differenz auszahlen würdet.«
Wir alle glotzten sie ziemlich blöde an, bis mein Vater die Sprache wiederfand: »Deine Ausbildung ist zu Ende Anna, und du wohnst trotzdem noch hier, ohne etwas dafür zu bezahlen. Ich könnte dein Argument verstehen, würde Silvie auf der faulen Haut liegen und irgendetwas Unnützes studieren. Aber so? Auch ein Studium ist eine Ausbildung, und wir unterstützen sie darin. Aber wenn du möchtest, kannst du dein Abitur nachholen und auch studieren. Mich würde es freuen.«
Ich nickte begeistert. »Du könntest Design studieren oder Kostümbildnerin werden!« In der Tat schneiderte sie inzwischen sehr gut. Es waren zwar meist Klamotten nach Vorlagen aus der Schneiderei, in der sie mittlerweile fest angestellt war, aber sie entwarf auch einige Teile selbst, die sich dort gut verkauften. Nach wie vor war es nicht mein Stil, aber dass die Qualität stimmte und sie was draufhatte, das war auch für mich deutlich erkennbar.
Doch Anna schnaubte abfällig. »Ich will mal Familie! Wenn ich hier ausziehe, dann ziehe ich direkt mit einem Mann zusammen und bekomme Kinder. Wieso sollte ich euer Geld für ein sinnloses Studium verplempern?« Der intensive Blick, den sie mir dabei zuwarf, gefiel mir gar nicht. »Ich will gar keine Kinder, Anna!«, rief ich, doch mein Vater stoppte mich mit einer Handbewegung.
Anna und ich warfen uns böse Blicke über den Tisch zu, und sie stänkerte trotz der kurzen Ansprache meines Vaters bei nächster Gelegenheit weiter. Diesmal sicherheitshalber ohne Zeugen. »Ich finde es rücksichtslos von dir, dass ich jetzt noch fünf Jahre länger auf meine eigene Küche warten soll, bis du ausziehst. Normalerweise hätte ich nur bis nächstes Jahr warten müssen – dann wäre deine Lehre zu Ende gewesen.«
»Was willst du mit einer eigenen Küche? Du wohnst bei Mama und Papa, Mama kocht für dich – für was also?«, wollte ich wissen.
Als sei ich schwer von Begriff, schlug sie sich mit der flachen Hand vor die Stirn. »Wenn ich einen Freund hab, Silvie – und ich meine jetzt einen richtigen Freund, nicht so was wie dich und Johannes – dann sieht es schon komisch aus, dass ich mein eigenes Geld verdiene, aber nicht selbst für mich sorge. Ich meine, in fünf Jahren, wenn du mit deinem Studium fertig bist, dann bin ich 27.«
Ich schluckte ihre Kränkung ohne einen Kommentar hinunter. Dass sie schon vor Ende meines Studiums diesen sogenannten richtigen Mann kennenlernen könnte, zum Beispiel am nächsten Tag oder zumindest in naher Zukunft, schien ihr nicht in den Sinn zu kommen. »Wieso ziehst dann nicht du aus?«, wandte ich ein. »Ich brauche sicher noch vier Jahre lang Mamas und Papas Unterstützung. Du verdienst schon dein eigenes Geld und
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