Hirngespenster (German Edition)
habe, und er will nicht, dass die Leute reden. Weißt du, er ist hier in Bad Homburg bekannt. Wenn ich jetzt mit Glatze da draußen rumrenne, dann geht das Gerede los.«
Ich rieb mir die Schläfen. »Hat er dich ein einziges Mal gefragt, warum du das gemacht hast?«
Sie ging über meine Frage hinweg. »Silvie, du verstehst das nicht«, flüsterte sie weinerlich. »Ich weiß nicht genau, wie es finanziell bei uns aussieht, aber er scheint so gestresst in letzter Zeit, und ich will einfach nur, dass er mal wieder was verkauft. Wenn ich ihn jetzt noch aufrege, dann wirft er mir nachher vor, dass ich daran schuld bin, wenn die Geschäfte nicht laufen!«
Je mehr ich hörte, desto wütender wurde ich. Sie kannte die Finanzen nicht? »Guck dir doch mal ein paar Kontoauszüge an, damit du Bescheid weißt«, riet ich ihr. »Du musst ihm ja nichts davon sagen, nicht, dass er sich noch aufregt. Ich bin nur froh«, fügte ich noch hinzu, »dass du so ein sparsamer Mensch bist. Wenigstens habt ihr schon einen Großteil des Hauses abbezahlt.«
Am anderen Ende der Leitung vernahm ich ein kurzes Schnauben und dann ihre gepresste Stimme: »Ich muss auflegen Silvie. Essen vorbereiten.«
Inzwischen kann ich mich selbständig an der Wand oder an einem Tisch aufrichten und sogar frei stehen. Aber es passt ihnen nicht, dass ich immer eigenständiger werde. Ich soll mich gedulden, eins nach dem anderen, heißt es, und ich sei zu unbeholfen. Sabina ist eher daran interessiert, dass ich wieder sprechen kann. Sie tut alles dafür, spricht mir täglich vor, als hätte ich nicht alle Tassen im Schrank. »D-a-s i-s-t e-i-n B-a-ll!«, sagt sie und deutet auf Oles Ball, und ich denke: Das weiß ich auch, meine Liebe. »A-a-a« sage ich und »O-o-o«. Danach schweige ich wieder, bin verblüfft, dass beides ganz anders klingt als erwartet. Ich übe lieber heimlich weiter, wenn ich im Bett liege oder wenn ich mich unbeobachtet fühle. »A-a-a« mache ich und »O-o-o«. Es wird schon noch klappen. Man darf nicht aufgeben.
Anna
Nachdem sie das Telefonat mit Silvie beendet hatte, stand Anna noch einen Moment reglos in der Küche und wischte sich die Tränen von den Wangen. Linke Wange – rechte Wange – linke Wange. Und noch einmal. Wenn Silvie wüsste. Wenn sie wüsste, dass das Haus vollfinanziert war. Neunhunderttausend Euro hatten sie aufgenommen. Achthunderttausend für das Haus und einhunderttausend für die Einrichtung. Sie hatte dreißigtausend Euro mit in die Ehe gebracht, alles, was sie in zehn Jahren zusammengespart hatte. Für Steuern und Gebühren war es draufgegangen, futsch und weg, das eisern zurückgelegte Geld. Ob sie das Haus wollte, danach war nicht gefragt worden. Obwohl es ihr sowieso gefallen hatte. »Das kaufen wir!«, hatte Matthias feierlich verkündet, vorne im Eingangsbereich, von dem aus man in die Galerie nach oben sehen konnte, zu den Kinderzimmern, zum großen Bad und zum Arbeitszimmer. Seine Worte hatten von den Wänden des leerstehenden Hauses widergehallt. Niemals hätte sie es für möglich gehalten, einmal in einem Haus mit Kirschparkettboden zu leben.
»Wir machen alles vom Allerfeinsten«, hatte Matthias gesagt und eine weiße Küche mit Auszügen und Türen, die sanft zuglitten, ausgewählt, mit einer Arbeitsplatte aus dunklem Granit und einem eingebauten Kaffeevollautomaten, der sie an einen Restaurantbetrieb erinnert hatte. Die Wohnzimmermöbel edel und funktionell, mit in die Wand eingelassenem Flachbildschirm. Im ganzen Haus gab es kein einziges Möbelstück von IKEA, noch nicht einmal in den Kinderzimmern. Das wäre für Matthias undenkbar gewesen. IKEA? »Schraubst du noch, oder lebst du schon?«, das war Matthias' Spruch für weniger solvente Kunden.
Im Grunde war sie ganz froh, dass Silvie derzeit nicht vorbeikommen durfte. Nachdem sie ihre neue Wohnung im Nordend bezogen hatte, war sie natürlich beschäftigt. Keine Rede mehr von einem eigenen Haus. Gut, vielleicht wäre Silvie vorbeigekommen, hätte Matthias ihr den Besuch nicht untersagt, aber noch traute Anna dem Frieden ohnehin nicht, dass sie angeblich doch keinen Krebs haben sollte – früher oder später kam er sicher wieder. Spätestens Silvie würde ihren Teil dazu beitragen, dass sie wieder krank wurde. Immerzu stellte sie diese provokanten Fragen, hakte nach, ließ einen nicht in Ruhe. Wenn man gut verdiente, kam man ganz gut zurecht mit ihren Fragen. Aber wenn nicht …
Anna griff nach dem Lappen über dem Wasserhahn an der
Weitere Kostenlose Bücher