Hirngespenster (German Edition)
sie in Bad Homburg zu hören. »Der Doktor möchte Sie gerne mal wieder persönlich sprechen. Ich habe Sie schon mehrmals darauf angesprochen, Frau Ziegler, ich darf Ihnen kein weiteres Rezept ausstellen, ohne dass er Sie gesehen hat. Sie haben offensichtlich die Dosis erhöht, ohne das mit ihm abzusprechen.«
Dasselbe in Oberursel. Dabei wusste kein Arzt vom anderen.
»Bitte schicken Sie es mir zu, ich bin krank und kann nicht weg!«, flehte sie.
»Umso besser, wenn Sie vorbeikommen – wenn Sie krank sind, sollten Sie sowieso keine Medikamente mixen.«
Sie rief bei der Zentrumsapotheke an. »Können Sie mir bitte eine 50er-Packung Morex schicken, zwanzig Milligramm, das Rezept liefere ich nach«, bat sie und zupfte übernervös an ihren kurzen Haarstoppeln.
»Nein, das tut mir leid, aber ohne Rezept darf ich nichts schicken«, bekam sie Auskunft.
»Aber Sie kennen mich doch! Anna Ziegler. Ich hole doch oft meine Tabletten bei Ihnen!«, rief sie und riss stärker an ihren Stoppeln.
»Bitte beruhigen Sie sich, Frau Ziegler, es geht wirklich nicht. Nicht bei diesem Medikament.«
»Bitte machen Sie doch einmal eine Ausnahme! Ich reiche Ihnen ganz bestimmt das Rezept nach!«
»Frau Ziegler, ich verstehe Ihre Aufregung doch. Wenn Sie Ihren Arzt bitten, uns das Rezept zu faxen, dann kann ich Ihnen das Medikament zuschicken. Wollen wir es so machen?«
Sie knallte den Hörer auf und rief Matthias an. Unmöglich konnte sie sich in ihrem jetzigen Zustand einen neuen Arzt suchen.
»Matthias, ich brauche Tabletten aus der Apotheke. Kannst du die für mich holen?«, bat sie.
»Was für Tabletten?«
»Mensch!«, rief sie ungehalten. Dann ruhiger: »Tabletten eben. Fünfzig Morex, zwanzig Milligramm. Du kennst doch die alte Frau Wein in der Zentrumsapotheke. Dir gibt sie sie bestimmt.«
»Was meinst du damit? Sind die auf Rezept?«
»Mensch!«, schrie sie wieder und knallte den Hörer auf. Dann betrachtete sie die roten Schlieren auf dem Apparat und ihre feuchten Finger. Blut? Erschrocken lief sie zum Spiegel im Flur und inspizierte ihren Kopf. Hatte sie sich Haare ausgerissen? Erst jetzt spürte sie den stumpfen Schmerz, das Pochen auf ihrer Kopfhaut. Erschöpft ließ sie sich auf den Boden sinken und heulte auf. Sie musste zu einem Arzt, ob sie wollte oder nicht! Selbst, wenn sie sich auf den Kopf stellte, ohne Arzt kam sie nicht an die Tabletten. Kurzerhand entschied sie sich für die Praxis in Oberursel. Sie galt dort als Privatpatientin, und sie hatte die Hoffnung, dass es die Sache vereinfachte. Nicht, dass sie glaubte, dass es tatsächlich problematisch werden könnte – aber man konnte nie wissen. Notdürftig wusch sie sich den Kopf und band sich ein Tuch darum. Danach schlüpfte sie eilig in Jeans und T-Shirt, verließ das Haus und schickte ein Stoßgebet zum Himmel, dass ihr nicht ausgerechnet jetzt Christine Brückner über den Weg lief, die garantiert die Ohren spitzte und darauf erpicht war, ihr in der Auffahrt zu begegnen – doch alles am Nachbarhaus blieb ruhig. Die sich bewegende Gardine im ersten Stock bemerkte sie nicht, als sie in den Wagen sprang und versehentlich den Motor aufheulen ließ. Eilig schoss sie von der Auffahrt auf die Straße, nur knapp an einer auf dem Bürgersteig abgestellten Mülltonne vorbei. Es war ein Wunder, dass sie keinen Unfall verursachte, so wenig achtete sie auf den Verkehr. Allein ihre ganze Konzentration war nötig, um zu schalten und zu bremsen, links und rechts gab es zu viele Dinge, die sie ablenkten. Allen voran Schulkinder, die jeden Moment auf die Straße springen konnten.
Als sie schließlich mit dem Wagen vor der Arztpraxis in Oberursel vorfuhr, war es bereits kurz vor der Mittagspause, und sie hoffte inständig, dass sie um ein langatmiges Gespräch herumkam. Es wäre von Vorteil gewesen, hätte sie vor ihrem Besuch noch eine Tablette nehmen können, doch sie hatte es lieber nicht getan, da sie noch fahren musste. Einerseits stand in der Packungsbeilage, man solle nach Einnahme nicht mehr am Straßenverkehr teilnehmen, andererseits kam sie ohne kaum noch durch den Verkehr, ein Witz war das! Und einparken – das schaffte sie nervlich ebenso wenig. Abgesehen davon, dass vor der Praxis ohnehin keine regulären Parkplätze vorhanden waren. Die Oberurseler Altstadt war wie immer hoffnungslos zugeparkt, und an ein Parken ein paar Straßen weiter war aufgrund der wenigen Zeit, die ihr noch zur Verfügung stand, nicht zu denken. Kurzerhand parkte sie den Wagen
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