Hirngespenster (German Edition)
hätten meine Eltern tun können? Sie versuchten ja, mit ihr zu reden. Sollten sie ihr vielleicht die Kinder wegnehmen? Das Jugendamt auf den Hals hetzen, der eigenen Tochter?
Mich fragten sie das auch: »Was sollen wir machen, Silvie? Matthias ist auch nicht gesprächsbereit.«
Ich wusste keinen Rat. Auch wenn sie mir gegenüber am Telefon behauptet hatte, mit Matthias sei alles in Ordnung – ganz offensichtlich hatte die Beziehung der beiden einen Knacks. Man musste nur daran denken, dass Matthias Anna nicht einmal während ihres Eingriffs im Krankenhaus besucht hatte. Die Schläge, von denen mir Christine Brückner berichtet hatte, erwähnte ich meinen Eltern gegenüber nicht – ich glaubte ihr nicht. Redete mir ein, sie habe den Fernseher gehört und Anna auf dem Kieker. Meine Kinder waren noch klein. Ich hatte keine Vorstellung davon, wie man sich fühlt, wenn die Kinder erwachsen sind, in welche Beziehung man zu ihnen tritt. Ab wann tritt der Zustand ein, in dem man bemerkt: Ich habe keinen Einfluss mehr auf das Leben meiner Kinder, sie sind selbstbestimmt? Selbst wenn diese Selbstbestimmung hieß, zerstörerisch mit der eigenen Gesundheit und mit der der eigenen Kinder umzugehen. Und umgekehrt: Wie lange ist man als Vater oder Mutter gewillt, zuzusehen, wenn das Leben der erwachsenen Kinder schiefläuft? Ich fragte mich das häufig, aber ich kam zu keinem Ergebnis. Tatsache war, Anna blockte jede Hilfe von außen ab. Hätten meine Eltern oder ich ihr helfen wollen, wir hätten mit roher Gewalt vorgehen müssen. Stattdessen aber hofften wir, alles werde sich wie durch Zauberei von selbst lösen. Oder sie werde schon auf uns zukommen und um Hilfe bitten. Doch ganz im Gegenteil.
Anna
Anna ruderte mit den Armen, um den Halt nicht zu verlieren, doch der Fall in den Dschungel unter ihr war nicht aufzuhalten. Sie hatte nach einem Päckchen Rasierklingen greifen wollen, ganz oben auf einer Felsplattform hatten sie gelegen, und nun fiel sie hinab in die Tiefe, rückwärts, dem Urwalddschungel entgegen. Ihr Fall beschleunigte sich, sie stieß ein gellendes Schreien aus, und plötzlich packten sie zwei Arme, die sie auffingen, ihr kurz Erlösung verschafften, bis die zwei Hände, die zu den Armen gehörten, ihr hart in die Oberarme kniffen, sie schüttelten und damit zur Besinnung brachten.
»Anna, um Gottes willen, reiß dich zusammen!«, zischte Matthias und schaltete die Lampe des Nachttisches an. Ihm stand der Schweiß auf der Stirn.
»Mama!«, kam es von der Schlafzimmertür, und Matthias raunte: »Mama hat schlecht geträumt, Luna, leg dich wieder hin.«
»Mach die Mama nicht kaputt«, flüsterte Luna und flüchtete ängstlich zurück in ihr warmes Bett. Anna griff fieberhaft nach ihren Pillen und ihrer Wasserflasche, um den Durst hinunterzuspülen, und die Angst vorm Fall, die Angst vorm Tod.
Kurz darauf hatte der Traum sie wieder in seinen Fängen: Sie irrte durch den Dschungel, auf der Suche. Doch die Rasierklingen erreichte sie nicht mehr.
Am anderen Morgen stand sie neben Matthias in der Küche, und in ihrem Kopf pochten wieder die Fragen, die sie seit Tagen beschäftigten. Die Frage nach dem Inhalt des Schreibens der Rechtsanwaltskanzlei, in dem es um Betrug und eine Vorladung vor Gericht gegangen war, ebenso die Frage danach, ob inzwischen die Raten an die Bank bezahlt waren. Sie hatte Silvie erzählt, es sei alles erledigt, aber nichts war erledigt. Die Fragen schwirrten in ihrem Kopf herum, sie tanzten ihr auf der Zunge, wollten herausfallen, doch mittlerweile hatte sie gelernt: Jegliche Art von Fragen konnte ihn gegen sie aufbringen. Es gab natürlich auch harmlose Fragen wie die, was bei Lunas Elternabend am Vorabend besprochen worden war. Doch selbst die brachte ihn auf.
»Ich musste zwanzig Euro in die Klassenkasse einzahlen, Anna, ist das noch normal? Kopiergeld. Arbeitshefte. Ich muss zwanzig Euro zahlen, dafür, dass ich noch nicht mal mitreden darf, welches Arbeitsheft genommen wird. Offenbar kein gutes, wenn man bedenkt, wie schlecht Luna schreibt!«
Die Art und Weise, wie er die zwanzig Euro erwähnte, ließen Anna davon ausgehen, dass die Raten fürs Haus nicht bezahlt worden waren, oder – so überlegte sie dann – bedeutete es umgekehrt, dass er die Raten sehr wohl bezahlt hatte und sich nun über die zusätzlichen zwanzig Euro aufregte? Ein Kleckerbetrag im Grunde genommen, der ihr nunmehr erneut den Boden unter den Füßen wegzuziehen drohte. Eins – Tasse aus dem Schrank
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