Hirngespenster (German Edition)
ihm wieder aufzunehmen; dauernd mäkelte Johannes an mir herum. Diese Versicherungsgeschichte entwickelte sich zu unserem Hauptgesprächsthema. Zwar funktionierten wir als Mama und Papa, sehr gut sogar, wie ich finde, aber das Liebesbarometer bewegte sich um den Gefrierpunkt. Schloss er abends die Tür auf, ließ er keine zehn Minuten verstreichen, bis er fragte: »Und, hast du diesen Herrn Reimer erreicht?« Ich überlegte mir Ausreden: Herr Reimer befand sich im Urlaub, hatte keine Termine frei, man konnte ihn nicht erreichen.
»Du willst mich nicht einbeziehen«, warf Johannes mir schließlich vor.
»Das stimmt«, sagte ich und hielt seinem Blick stand. »Du machst eine Staatsaffäre daraus, dass ich was abgeschlossen habe, ohne dich zu fragen. Wenn es dir so wichtig ist, dann kümmere dich selbst drum. Such dir einen eigenen Berater.«
Johannes reagierte gekränkt und ließ das Thema für ein paar Tage ruhen, bis ich mich schließlich in Sicherheit wiegte. Ich brachte jeden Abend ein gekochtes Essen für ihn auf den Tisch, freute mich fast, dass er in letzter Zeit wesentlich früher nach Hause kam als noch vor einiger Zeit, und hatte weiterhin den verkrampften Gedanken an einen Neuanfang im Kopf – wie auch immer das gehen sollte. Über die Lippen bekam ich davon nichts. Im Grunde muss einem Neuanfang ein Gespräch vorausgehen, eines, in dem man sich ausspricht, das aufarbeitet, was schiefgelaufen ist in der Vergangenheit – von beiden Seiten. Aber auf meinen Lippen wohnte das Schweigen. Sicher, ich hätte sagen können: »Ich habe mich innerlich von dir entfernt, weil mir der Sex gefehlt hat – schon in der Schwangerschaft mit Nils hat er mir gefehlt.« Dabei war das doch schon gar nicht mehr der Grund – und es klang auch hohl. Nicht nur der Sex hatte mir gefehlt. Auch die Liebe. Das wurde mir mehr und mehr klar.
Wenn ich an Jens' Augen dachte, raste mein Puls. Und das ließ sich beileibe nicht dadurch beheben, dass ich mir nachmittags die Waltons reinzog. Ich hatte diese Serie als sehr spannend in Erinnerung, hatte mich als kleines Mädchen nach dieser Familienidylle verzehrt, nach den Grillen, die in der Hitze der Bäume zirpten, und nach den hübschen Baumwollkleidchen der Mädchen. Als ich jedoch die erste DVD einlegte, da zweifelte ich ein wenig an meinem Verstand. Inhaltsangabe eines Films von fünfundvierzig Minuten Länge auf den Punkt gebracht: verletztes Kälbchen wird kuriert. Gute Nacht John-Boy. Ich stellte die DVD-Staffel wieder in eBay ein, aber keiner war so blöde, sie zu ersteigern; noch nicht mal für einen Euro wollte sie einer haben.
Als Johannes an einem dieser unseligen Abende, in denen ich mir einfach nur selbst leidtat, nach Hause kam, fragte er unvermittelt: »Kamen inzwischen eigentlich die Versicherungsscheine?«
»Welche Versicherungsscheine?«, fragte ich.
»Na, zu den Anträgen. Das auf dem Tisch waren nur die Anträge, keine Scheine. Wir brauchen doch noch was für unsere Unterlagen – und nach den Krankenakten hat doch auch noch keiner gefragt. Die müssten doch auch eine Rechnung schicken über die Prämie.«
Wäre ich ein Hund gewesen, ich hätte geknurrt. Er gab keine Ruhe! »Mann, Mann, Mann«, sagte ich und glotzte aus dem Fenster. Ich musste mir dringend etwas einfallen lassen. Auch, wenn ich nicht die geringste Idee davon hatte, was.
Ein paar Tage später erreichte mich ein Anruf von Anna: »Silvie, wie komme ich ins Internet?«, fragte sie ohne Umschweife.
Ich musste lachen, wusste ja, dass sie mit Computern nicht das Geringste am Hut hatte. »Weißt du denn, wie man sich in den Computer überhaupt einloggt?«, fragte ich und legte Oles Schlafanzüge in die Wickelkommode.
»Einloggt?«
»Du brauchst ein Passwort, um reinzukommen.«
Die Stille am anderen Ende der Leitung sprach Bände. »Ich kann vorbeikommen«, bot ich an.
»Heute Nachmittag?«, fragte sie, und ich musste wieder grinsen.
»Besser morgens, dann muss ich nur Ole mitbringen.«
»Morgen früh dann also?«, schlug sie vor.
»Einverstanden«, sagte ich, »morgen um zehn.«
Als ich zur verabredeten Zeit am nächsten Tag bei ihr eintraf, sah ich mich unauffällig um, prüfte, ob sie immer noch so messiemäßig drauf war oder ob alles normal schien. Doch wie das Haus, so machte auch Anna einen aufgeräumten Eindruck. So wie früher, wenn auch fahrig – aber das war sie schon häufiger gewesen. Wir setzten uns an den PC und hatten sogleich das erste Problem: Sie hatte überhaupt kein
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