Hirngespenster (German Edition)
rüber.«
»Willst Rezept?«, fragte Olga, in die wieder Leben gekommen war.
Sabina schüttelte dankbar den Kopf. »Den kann keine so gut wie du, Olga«, sagte sie. »Und tausend Dank noch mal, er war … sehr … reichhaltig.« Eilig winkte sie Vladimir und Ekaterina zu. Heute wartete nur noch Hausarbeit auf sie. Und eventuell ein Anruf von Alex.
Heute sind Nils und Ole mit »Opa und Oma« unterwegs. Sabina brütet über Zeichnungen – der Tisch ist voller dünner Papierbögen, dazwischen liegen Stoffmuster. Dass ich auch nur irgendetwas davon anfassen dürfte, davon kann ich nur träumen. Mir hat sie einen Stift in die Hand gedrückt und ein Fetzelchen Papier hingelegt. »Schreib mal deinen Namen«, hat sie gesagt und mir aufmunternd zugelächelt. Ich versuche mein Bestes, allein, um ihr zu beweisen, dass ich nicht so dumm bin, wie ich aussehe, und als ich fertig bin, betrachte ich mein Gekritzel anerkennend. Könnte ein Name sein. Sabina reckt ihren Hals und lobt mich für meinen Versuch. »Mach schön weiter!«, sagt sie und tätschelt meine Hand. Ich gebe mein Bestes. Schließlich wird mir doch wieder langweilig, und ich gleite vom Stuhl, stakse umher, setze mich aufs Sofa und gucke trübsinnig aus dem Fenster. Das Einzige, was ich erreicht habe, ist, dass ich einigermaßen laufen kann. Aber sosehr ich mich abmühe, ich kann nicht sprechen, ich kann nicht schreiben und nicht lesen. Trage Windeln. Vom ordentlichen Essen und Trinken bin ich weit entfernt. Oder vom selbständigen Anziehen. Nicht einmal Personen in Fotoalben erkenne ich! Andererseits, vielleicht war in dem Fotoalbum, das wir uns angesehen haben, gar kein Bild von Leuten, die ich kenne. »Opa und Oma« habe ich doch auch wiedererkannt, warum sollte ich Anna nicht erkennen? Ein Foto von Jens wird es nicht geben, ich habe nie eines besessen, aber von Anna? Manchmal bekomme ich sogar Zweifel, ob es Anna jemals gegeben hat, so fern erscheint alles, so sehr verblassen meine Erinnerungen manchmal. Es gibt Tage, die vergehen ohne einen einzigen Gedanken an mein früheres Leben oder an das, was ich während meiner Dunkelheit hörte. Dabei möchte ich mich doch so gerne vorantasten, so dass alles einen Sinn ergibt – zum Beispiel, warum es ausgerechnet Sabina ist, die hier bei mir ist. Obwohl, so entsetzt ich auch anfangs darüber war, so gibt es immer wieder Situationen, in denen ich mich vergesse und mich an sie dranhänge wie eine Klette, wenn sie das Haus verlassen will. Ich habe Angst, dass sie nicht wiederkommt und mich alleine lässt. Verrückt das Ganze! Noch verrückter ist es, dass sie sich darüber zu freuen scheint. Letztens sagte sie zu Johannes, wie froh sie sei, dass ich sie nicht mehr ablehne, so wie am Anfang. Es habe sie fast zur Verzweiflung getrieben und furchtbar verletzt, dass nur er mich habe beruhigen können und dass ich mich nur von ihm in den Arm nehmen ließ. Du lieber Himmel, ich glaube, ich habe mich nicht immer gut benommen. Allerdings, wenn ich wüsste, was aus Anna geworden ist, dann würde ich über all das gar nicht mehr nachgrübeln, würde die Vergangenheit Vergangenheit sein lassen und alles so akzeptieren, wie es ist. Das Leben muss doch weitergehen.
Manchmal träume ich, dass Anna im Gefängnis sitzt. Es muss doch einen Grund dafür geben, dass sie niemals kommt. Vielleicht wohnt sie hier im Keller, gefangen gehalten von Sabina und Johannes. Ha, ha.
Plötzlich springe ich wie von der Tarantel gestochen vom Sofa und begebe mich, so schnell ich kann, zu Sabina an den Tisch, rüttle an ihrem Arm. In den Keller will ich! Die Fotoalben, die Johannes erwähnt hat! Ich deute auf die Haustür, laufe schließlich hin und rüttele daran. »Was ist denn in dich gefahren?«, fragt sie und tippt sich an den Kopf. Ich rüttle wieder an der Tür, bummere dagegen und versuche »Keller!« zu sagen, aber ich weiß es selbst – das, was mir über die Lippen kommt, klingt nicht annähernd danach. Sie erhebt sich und stemmt die Hände in die Hüften. »Was soll das denn werden?«, fragt sie, und es klingt skeptisch. Ich versuche eine andere Masche, lege den Kopf schräg und sehe sie treuherzig an. »Hlr«, gurre ich und tippe mit dem Finger gegen die Wohnungstür. Da lacht sie, nimmt unsere Jacken vom Haken und sagt: »Du willst spazieren gehen?« Ich lege den Kopf schräg und lächle nachsichtig. Nein, das will ich nicht. Aber um in den Keller zu kommen, muss ich aus der Tür. Also nicke ich schließlich. Gehen wir eben spazieren.
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