Hirschkuss
Familie der Verschwundenen gab bereitwillig Auskunft. Lediglich zwei Themen veränderten die lebendige Stimmung am Tisch nachhaltig: Für die Eltern war es offensichtlich ein Problem, dass Hanna mit ihren vierunddreißig Jahren noch nicht verheiratet war. Von einem Christian Reitzle wollten sie noch nie gehört haben.
»Hanna hat keine Freund. Schon lange nicht«, erläuterte der Vater, der meist antwortete. »Ist alles schwierig. Wir sind hier nicht in Griechenland …«
»Das ist doch nicht das Problem, Baba«, warf Hannas großer Bruder Alexandros in lupenreinem Deutsch ein. »Hanna arbeitet einfach zu viel. Das ist das Problem!«
Der alte Grieche sah Anne ernst an. »Mein Sohn hat auch eine wenige recht. Hanna ist verheiratet mit ihre Bank. Aber wissen Se, Frau Loop, eine Bank kann nicht kriegen Kinder. Aber griechische Eltern wünschen Enkel.« Er sah zu seiner Frau hinüber, die still nickte.
Das zweite Gesprächsthema brachte die Atmosphäre am Esstisch etwas mehr aus dem Gleichgewicht. Nachdem Sepp Kastner alle Teller, bis auf jenen mit den Tintenfischen, nicht nur leer gegessen, sondern auch mit Pitabrot sauber gewischt hatte, fragte er: »Jetzt einmal eine ganz andere Frage, Herr Nikopolidou: Können Sie sich erklären, warum die Hanna hunderttausend Euro in bar daheim herumliegen hat?« Die vier Griechen rissen die Augen auf, aber keiner antwortete. »Ja, was ist jetzt da los?«, fragte Kastner erstaunt. »Warum schauen Sie jetzt so?«
Der alte Nikopolidou flüsterte seiner Frau auf Griechisch etwas zu und erhielt eine ebenso getuschelte Anwort.
»Was haben Sie zu Ihrer Frau gesagt?«, fragte Anne streng.
»Er hat unsere Mutter gefragt, ob sie etwas weiß«, sagte Alexandros und klang für Anne dabei eine Nummer zu lässig.
»Und was hat Ihre Mutter geantwortet?«
»Dass sie sich das auch nicht erklären kann.«
Dann entstand eine Gesprächspause, die Anne als sehr unangenehm empfand und die erst durch einen hilflosen Erklärungsversuch des Vaters beendet wurde: »Polizei muss verstehen: Hanna ist tüchtig. Sie verdient sehr gut. Und wer kann heute schon sicher sein, dass sein Geld, wenn er es auf die Bank bringt, morgen noch da ist?«
»Herr Nikopolidou, jetzt erzählen’S uns doch keinen Schmarrn«, entgegnete Kastner genervt. »Ihre Tochter arbeitet doch in einer Bank. Ja, wenn die nicht weiß, wie man sein Geld sicher anlegt, wer denn dann? Warum sollte eine erfolgreiche Bankerin ihr Geld daheim herumflacken lassen?«
Der Vater zog die Mundwinkel nach unten und zuckte trotzig mit den Schultern.
»Außerdem ist es ein bisschen viel Geld, um es so nebenbei vom Konto zu schaffen«, ergänzte Anne. »Wir haben Hannas Kontoauszüge durchgesehen. Da sind keine größeren Abhebungen. Das Geld muss aus einer anderen Quelle stammen.« Annes Stimme klang fest und überzeugt. Aber die vier Befragten schwiegen und mieden den Blickkontakt mit den Ermittlern.
»Könnte es sein, dass das Geld nicht versteuerte Einnahmen aus Ihrem Restaurant sind?« Anne hatte die Frage leise gestellt, aber sie blieb nicht ohne Wirkung.
»Das ist Unverschämtheit! Wir haben immer alles Steuer angegeben! Wir sind ehrlich! Ehrliche Griechen!«, platzte es aus dem Vater der Verschwundenen heraus.
Als Anne Loop und Sepp Kastner schon wieder auf der Autobahn in Richtung des Sees inmitten von Bergen waren, sagte Anne: »Schwarzgeld. Seppi, die Hunderttausend sind wahrscheinlich Schwarzgeld aus dem Restaurant. Ich glaube, wir sollten mal unsere Kollegen beim Finanzamt anrufen und fragen, ob bei den Nikopolidous steuerlich immer alles mit rechten Dingen zugegangen ist.«
Zurück in der Dienststelle erstatteten Anne und Kastner ihrem Vorgesetzten Kurt Nonnenmacher noch kurz Bericht, doch der zeigte sich nur mäßig interessiert. Als vom geöffneten Fenster ein sommerlicher Windstoß in das Chefzimmer wehte und Anne eine Geruchswolke entgegentrug, war ihr klar, dass der wichtige Termin mit dem Bürgermeister der südlichen Seegemeinde, wegen dem der Chef sie nicht hatte nach München begleiten können, mit der Verkostung mehrerer Gläser Bier einhergegangen war. In der Brauerei am See kannte man sich mit der Herstellung des bayerischsten aller Getränke aus, blickte man doch mit Stolz auf jahrhundertelange Erfahrung zurück. Das erste Bier in dem 746 gegründeten Kloster wurde der Überlieferung nach im Jahr 1050 gebraut. Das einzige Rätsel, das die Einheimischen und auch die renommiertesten Anthropologen und Historiker der
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