Hirschkuss
herein.«
Der Polizistin blieb keine Zeit, sich über die Jugend ihrer Gesprächspartnerin zu wundern, denn jene hatte ihr bereits den Rücken zugewandt und schritt durch die Eingangsgalerie und eine Glastür in einen ausladenden Raum, der offensichtlich als Wohnzimmer genutzt wurde. Vor einem von weißem Stuck umrahmten Kamin lagen mehrere helle, fellartige Teppiche, die Anne aber keinem Tier eindeutig zuzuordnen vermochte. Cindy Mattusek bat sie, auf dem riesigen Sofa hinter dem Glastisch, auf dem ein Tabletcomputer lag, Platz zu nehmen. Sie selbst setzte sich auf das ebenso große Sofamöbel auf der anderen Seite des Tischs, zog ihre schlanken, barfüßigen Beine, die in lachsfarbenen Leggins steckten, an, umarmte sie, als wäre ihr kalt, und suchte unsicher Annes Blick. Dass ihr Mann von den Holzfällern vermisst gemeldet worden war, hatte Anne ihr bereits am Telefon mitgeteilt.
»Ist Ihnen selbst das Verschwinden Ihres Mannes gar nicht aufgefallen?«
»Nööö …« Cindy Mattusek senkte verlegen den Blick und studierte die lachsfarben lackierten Nägel ihrer auf dem weißen Polster liegenden Füße. »Wolfgang war ja schon eine ganze Weile in Bayern …« Der Satz verlor sich in der aufgeräumten Leere der Villa.
»Haben Sie nicht regelmäßig telefoniert?«
»Doch … schon.«
»Wann haben Sie ihn zum letzten Mal gesprochen?«
Das Mädchen, das auf Anne viel zu jung wirkte, um die Ehefrau des über sechzigjährigen Holzhändlers zu sein, zuckte mit den Schultern. »Vielleicht vor drei Tagen? Oder vier?«
»Sie haben nicht jeden Tag telefoniert?«
»Eigentlich … schon«, antwortete Cindy Mattusek, wobei sie das letzte Wort in die Länge dehnte.
»Aber?«
»Aber in den letzten Tagen eben nicht.« In dem Satz schwang ein leiser, bockiger Unterton mit.
»Vermissen Sie Ihren Mann?«
»Schon.« Erneut dehnte sie die Silbe.
»Können Sie sich vorstellen, was mit Ihrem Mann passiert ist?«, fragte Anne nun.
»Nö.« Cindy Mattusek spielte mit ihren ebenso sorgfältig manikürten Fingern an den Zehen ihrer hübschen, kleinen Füße herum. Anne schwieg so lange, bis sie noch einige Worte hinterherschob: »Der wird schon wiederauftauchen.«
»Was gibt Ihnen die Gewissheit?«, hakte Anne nach. »Ist er schon einmal verschwunden und dann wiederaufgetaucht?«
»Nicht dass ich wüsste.«
»Warum sind Sie nicht mit nach Bayern gezogen?«
»Das stand nie zur Debatte. Ich war dort nicht mal zu Besuch. Wolfgang ist alle paar Monate woanders. Da habe ich keinen Bock drauf. Da bin ich lieber hier.« Sie sah sich um. »Hier hab ich alles.«
»Würden Sie sagen, dass Ihre Ehe …«, Anne versuchte den Satz möglichst freundlich zu vollenden, »… intakt ist?«
»Was ist das schon, ›intakt‹?« Cindy Mattusek sah Anne trotzig an. »Ist Ihre Ehe denn intakt?«
»Nö«, gestand Anne trocken. »Ich habe nicht mal eine Ehe. Ich hab ’nen Freund, wobei ich gar nicht weiß, ob er mein Freund ist, also, so richtig. Klar, wir haben Sex, und ich mag ihn. Aber ich würde vielleicht gerne mal hören, dass er zu mir ›Ich liebe dich‹ sagt oder so was. Aber er sagt es nicht.« Sogleich schämte Anne sich für diese unangemessene Offenbarung ihres Privatlebens, aber da war es schon raus.
»Und Sie? Warum sagen Sie es nicht?«, fragte Cindy Mattusek, die mit einem Mal aufgeschlossener wirkte.
Anne zuckte mit den Schultern. »Ich trau mich nicht. Hab da schlechte Erfahrungen gemacht. Nachdem mein Ex mir gesagt hat, er brauche wegen einer Therapie mal eine Pause, hat er seine Therapeutin geschwängert.«
»Oh«, meinte die Frau des Holzinvestors. Sie sah zum Fenster. Der Garten hinter dem Haus wirkte nicht sehr groß, einige alte Bäume begrenzten das Sichtfeld.
»Und wie ist das bei Ihnen und Ihrem Mann – haben Sie … Sex?«
Die junge Frau blickte Anne erstaunt an. Die direkte Frage schien sie zu berühren. Nach einem Zögern nickte sie, es folgte ein seltsam leises »Schon«. Cindy Mattusek wirkte nicht glücklich, während sie dies sagte.
»Warum schauen Sie so komisch?«, fragte Anne nach.
»Warum fragen Sie mich nach unserem Sexleben?«
Ohne auf die Gegenfrage einzugehen, meinte Anne: »Würden Sie sagen, Ihr Mann hat eine normale Vorstellung von … nun ja, Erotik?«
»Darüber möchte ich nicht sprechen«, wehrte Cindy Mattusek mit traurigem Blick ab.
»Nun, für uns ist das aber … eine sehr wichtige Frage«, sagte Anne zögerlich und schob dann kurz und bündig hinterher: »Wir haben
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