Hirschkuss
zögerte einen Moment. »Problematisch ist die ganze Sache erst geworden, als ich Wolfgang gesagt habe, dass ich keine Lust mehr auf seine Sexspielchen habe. Sind doch albern, diese Uniformen, diese Plastikwäsche … Ich bin doch keine Barbiepuppe! Ich bin eine Frau.«
»Was meinen Sie mit ›problematisch geworden‹?« Annes Stimme war jetzt leise und gespannt.
»Na ja, Wolfgang war beleidigt, wir hatten keinen Sex mehr, was ich allerdings nicht so schlimm fand. Aber er war dann auf einmal auch nicht mehr so nett zu mir. Er war von einem Tag auf den anderen viel weg, und ich wusste oft überhaupt nicht, wo er war. Ich konnte ihn telefonisch nicht erreichen, er hat mich im Prinzip sitzen gelassen. So hatte ich mir eine Ehe nicht vorgestellt.« Cindy Mattusek tastete mit dem großen Zeh ihres rechten Fußes den flauschigen Teppichboden ab. »Ich meine, ich hatte schließlich Pläne. Ich wollte nach Spanien und dort in einem Ferienklub arbeiten. Und danach wollte ich Betriebswirtschaft studieren. Letztlich hat Wolfgang mein Leben zerstört.«
»Na ja«, widersprach Anne. »Sie sind ja noch nicht alt. Das können Sie doch alles noch machen.«
»Ach ja?«, brauste Cindy Mattusek nun unversehens auf. »Wissen Sie, der hat mir die ganze Power abgesaugt. Wie ein Blutegel. Ich fühle mich wie auf dem Abstellgleis. Klar sieht das hier alles toll aus. Ich wohne in einem super Haus, ich muss nicht arbeiten, kann eigentlich machen, was ich will. Aber das ist es doch gar nicht, um was es geht im Leben!«
»Um was geht es denn?«, fragte Anne freundlich.
»Man will gemocht werden, geschätzt, respektiert.« Der Blick der jungen Frau war trotzig. »Und zwar ohne Schwesternkittel.«
»Hassen Sie Ihren Mann dafür, dass er Ihr Leben …«, Anne zögerte, »… ausgebremst hat?«
»Hassen? Nein.«
»Wie würde es Ihnen gehen, wenn er jetzt tot wäre?«
»Das glauben Sie doch selbst nicht, oder?«
»Beantworten Sie meine Frage!«
»Das wäre … vielleicht eine Befreiung.« Sie hob den Blick und sah Anne in die Augen.
»Frau Mattusek, kann es sein, dass Sie etwas mit dem Verschwinden Ihres Mannes zu tun haben?«, fragte Anne ernst.
»Nein, kann es nicht. Ich bin doch nicht bescheuert.« Auch diese Antwort klang trotzig. Und Anne war sich nicht sicher, ob sie der Wahrheit entsprach.
Freitag
Nach einer unruhigen Nacht war Anne am nächsten Morgen, es war Freitag, ausnahmsweise einmal vor Sepp Kastner im Dienstzimmer. Eigentlich hatte sie sich am Abend vorgenommen, Johann zu fragen, ob er sie nicht noch besuchen kommen wolle. Sie hatte Sehnsucht verspürt. Doch erst hatte er ihre Anrufe nicht entgegengenommen, und dann hatte er – auch nachdem sie dreimal auf seine Mailbox gesprochen hatte – lange nicht zurückgerufen. Als er sich dann endlich meldete, hatten Annes Zweifel an ihrer neuen Beziehung derart überhandgenommen, dass sie ihre Bitte nicht mehr über die Lippen brachte. Und Johann bekam es offensichtlich auch nicht auf die Reihe, einen Besuch anzubieten. »Ich habe schon wieder den totalen Tunnelblick«, hatte er erklärt. Nachdem sie die rote Taste ihres Mobiltelefons gedrückt hatte, hatten sie finstere Gedanken übermannt: Ihr letzter Freund war depressiv gewesen. Ihr aktueller Freund war wahrscheinlich arbeitssüchtig. Konnte sie nicht einmal einen Mann erwischen, der normal war? Stimmte am Ende bei ihr selbst irgendetwas nicht?
Kein Wunder, dass sie schlecht geschlafen hatte.
Auch am Morgen, als sie das Kaffeepulver in den Filter löffelte, waren ihre Gedanken gleich wieder bei Johann. Immerhin war heute Freitag, und so bestand die Hoffnung, dass sie sich am Wochenende sehen würden.
»Schön, dass du wieder da bist, Urlauberin«, begrüßte Kastner seine Kollegin und zwickte sie in die Hüfte.
»Sag mal, spinnst du?«, fuhr sie ihn an, denn so etwas hatte er noch nie gewagt.
»Wer gut drauf ist, spinnt bei dir, oder was?«
»Na, dann ist ja wenigstens einer gut drauf«, meinte Anne. »Und darf man auch fragen, warum du heute gute Laune hast?«
»Ich bin sozusagen … verliebt«, meinte Kastner. Sein Blick verklärte sich, seine Wangen bekamen einen sanften Rotton.
Diese Aussage versetzte Anne einen kleinen Stich, wofür sie sich sofort ein wenig schämte. Jahrelang hatte Kastner um sie gebuhlt, und sie hatte ihn verschmäht, aber jetzt hatte er eine andere gefunden. Nachdenklichen Blicks ging sie zum Waschbecken und ließ Wasser in die Kaffeekanne laufen. ›Ich muss mich für ihn
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