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Hiske Aalken 01 - Die Lebenspflückerin

Hiske Aalken 01 - Die Lebenspflückerin

Titel: Hiske Aalken 01 - Die Lebenspflückerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Regine Kölpin
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gar nichts anderes. Er glaubte es nur. Die Eulen der Nacht, die Frösche in der Graft und auch die Schweine im Stall unterhielten sich. Oft verstand der Knabe deren Sprache eher als die der Menschen im Lager. Nur bei der Frau hatte er erfassen können, was sie von ihm wollte. Sie hörte auch zu, sah in seine Augen und las in seiner Seele. Er wollte zu gerne zu ihr, doch war es zu gefährlich, in die Nähe des Lagers zu gehen, denn sie suchten überall nach dem, der dem großen Mann das angetan hatte. Und sie dachten, dass er es gewesen war.
    Der Knabe wusste genau, dass sie ihn töten würden, wenn sie ihn in die Finger bekamen. Das hatten sie schon immer gewollt. Wenn er jetzt in die Nähe der Burg kam, verstand der Wortsammler ein paar von den Worten, die die Menschen sprachen. Es war, als habe der Abend mit der Frau in ihm einen Damm geöffnet, wie an einem See, in den nun noch mehr Worte hineinfließen konnten.
    Der große starke Mann war unangreifbar, dem durfte man nichts tun. Aber er war böse, nicht gut zum Meer.
    In einem großen Bogen wandte sich der Knabe zum Siel, sein täglicher Gang. Den ließ er, trotz aller Gefahren, nie aus. Er musste sich um das Wasser kümmern, er musste mit den Fluten reden, damit sie auf jeden Fall zurückkamen. Denn sonst waren alle hier verloren. Sie wussten es nur nicht. Keiner von ihnen.
    Als der Knabe aufs Wasser hinaussah, erkannte er ein großes Schiff, das auf die Küste zuhielt. Nun würden noch mehr dieser Menschen in das Land fallen und noch schneller diese Dämme bauen.
    Hiske wurde mitten in der Nacht von einem lauten Poltern geweckt. Es war Adele. »Schnell, du sollst zum Burghof kommen. Ein Schiff ist angelandet, und sie haben eine Schwangere dabei. Da kommt ein Kind, und es sieht nicht gut aus. Die Frau schreit wie am Spieß. Außerdem läuft ihr das Blut die Schenkel herab.« Adele schüttelte den Kopf. »Das war wohl etwas viel mit der langen Reise. Warum bleiben die Holländer nicht, wo sie waren?«
    Hiske sah Adele befremdet an. »Ich denke, ihr gehört alle zusammen?«
    Adele winkte ab. »Wir sind die wahren Täufer, die Mennoniten sind anders. Die haben Münster nicht erlebt.«
    »Sie sind in Holland auch
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und werden verfolgt«, wandte Hiske ein, während sie in ihr Gewand schlüpfte. »Was macht ihr bei den heimlichen Treffen, nachts in der Burg? Haltet ihr dort gemeinsame Gottesdienste ab?«
    »Bist du so weit?«, wich Adele aus. »Es schien wirklich eilig zu sein.«
    Hiske griff nach ihrem Bündel mit den Utensilien und warf sich ein Tuch um die Schultern. »Ich beeile mich ja.«
    Als sie über den dunklen Pfad lief, fragte sie sich zum wiederholten Mal, ob irgendwo in der Dämmerung der Wortsammler stand, hungerte und – trotz der mittlerweile schon wärmeren Nächte – fror. Es war ohnehin ein Wunder, dass der Junge so lange ohne ein Dach über dem Kopf überlebt hatte. Ob es doch jemanden gab, der ihn heimlich versorgte? Irgendwer musste sich ja auch schließlich um ihn gekümmert haben, als er noch kleiner gewesen war.
    Hiske hörte die Schreie der Frau schon von Weitem. Sie lag in einem der Ställe, und um sie herum hatte sich eine neugierige Menschentraube gebildet, die ihre Kommentare abgab. Hiske bahnte sich einen Weg hindurch. »Bitte alle weg hier!«, befahl sie. Ruhig, aber sehr nachdrücklich. Das hatte sie in den Jahren ihrer Hebammentätigkeit gelernt: Nur wenn sie bestimmt auftrat, konnte sie die Kinder gesund auf die Welt holen, nur so sich die Schwätzer vom Leib halten.
    Unwillkürlich wichen die Menschen zurück. Wieder spürte Hiske die Distanz zwischen sich und ihnen, die für sie unüberwindbar war. Sie war und blieb ein Fremdkörper in einer Gemeinschaft, die so fest miteinander verkettet war, dass sie es nie schaffen würde, ein Glied für sich zu öffnen, um ein Teil des Gefüges zu sein. Diese Welt war so unantastbar, dass man den Tod von Ascheburgs als gegeben hingenommen hatte. Selbst Krechting war in eine Art Starre verfallen, als ihm bewusst geworden sein musste, dass der Mörder aus den eigenen Reihen kam. Der Anschlag auf ihn vor ein paar Tagen hatte diese Lähmung noch verschlimmert. Immer lauter wurden die Mutmaßungen, dass es nur der irre Junge, der immer mal wieder am Lager auftauchte und von dem niemand wusste, wer er war und woher er kam, gewesen sein könne. Es war so einfach, sich den Schwächsten herauszusuchen, so musste man nicht nach der Wahrheit suchen.
    Und doch waren sich die Menschen nicht

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