Hiske Aalken 01 - Die Lebenspflückerin
unser Hafen fertig ist. Wer weiß, ob Rothmann überhaupt noch lebt. Die Zeiten sind so unsicher, das weißt du.«
Elske zog die Hände ihres Mannes vom Gesicht fort und bedeckte seine Wange mit einem leichten Kuss. Er streifte die Haut nur kurz, doch war es eine ungewohnte Nähe, die sich zwischen ihnen einstellte. Sie waren sich so lange körperlich nicht nah gewesen, ja, sogar fremd geworden. Elske hatte sich zurückgezogen, nachdem er in Münster auch die Haut anderer Frauen berührt und sie unter seine Decke gelassen hatte.
Doch nun sahen sie sich in die Augen. Alle Unbill, alle Fremdheit waren mit einem Mal wie weggeblasen. Die Einsamkeit und Furcht der letzten Zeit trieben die beiden aufeinander zu und ließen sie von einer Minute auf die andere im selben Fahrwasser und erneut in die gleiche Richtung schwimmen.
Hinrich griff nach Elske und zog sie zu sich. Er bedeckte ihren Hals mit seinen Küssen, sog ihren Duft ein und vergaß für eine ganze Weile seine Pein.
Kapitel 10
Hiske hatte tagelang nach dem Wortsammler gesucht, war in jeder freien Minute losgezogen. Er musste doch irgendwo stecken. Doch selbst in der Nacht hatte sie keinen Schatten gesehen. Sie umrundete die Burg, fragte, ob jemand den Jungen gesehen hatte, doch sie erntete nur missfällige Blicke, die ihr noch deutlicher machten, dass sie möglichst bald von hier verschwinden sollte. Aber sie konnte doch nicht gehen, ohne den Jungen wiedergefunden zu haben, ohne zu wissen, was mit ihm geschehen war.
»Was suchst du ihn?«, fragte Adele. »Er hat Krechting niedergeschlagen.« Sie war dabei, Graupen in einen Topf zu schütten. »Die ganze Burg redet davon. Ich war heute bei Anneke.«
Hiske zuckte zusammen. Sie hatte davon gehört, dass man Krechting in der Nacht, als der Wortsammler aus dem Haus geflohen war, am Hafen eins über den Schädel gezogen hatte. Aber warum nur sollte es ausgerechnet der Junge gewesen sein? Er war auch sonst Tag und Nacht unterwegs. Allein, auf sich gestellt. Warum sollte er gerade in dieser Nacht Krechting niedergeschlagen haben? Hiskes Gedanken kreisten, sprangen in ihrem Kopf hin und her. »Ich glaube einfach nicht, dass er gewalttätig ist«, sagte sie. »Er hat einen gutmütigen Blick und verlangt auch sonst eher nach Liebe denn nach Hass.«
»Es ist aber schon seltsam, dass er ausgerechnet jetzt fort ist, oder?«, fragte Adele. »Sicher stromert er durchs Moor, tanzt mit den Geistern dort und plant sein nächstes Verbrechen.« Adele rührte die Graupen um, gab ein paar Kräuter dazu.
»Im Moor, sagst du?«, fragte Hiske.
Adele winkte ab. »Was weiß denn ich! Irgendwo muss er ja stecken, und wer sich verbergen will, geht eben ins Moor. Da wird man nicht gefunden.«
Hiske nickte und dachte nach. Sie musste den Knaben einfach finden, egal wie.
Der Nebel klebte wie eine feste Schicht über dem Wasser der Nordsee. Sie waren schon viele Tage unterwegs, die Stimmung nicht die beste. Vor ein paar Stunden war die Nacht hereingebrochen. Das Schiff kam nur noch mit den Ruderschlägen der Mannschaft vorwärts. Das Wasser teilte sich vor dem Bug, um gleich, nachdem sich das Boot hindurchgepflügt hatte, wieder zu einer glatten Fläche zu verschmelzen. Es war fast aufdringlich still, die einzigen Geräusche kamen vom Aufschlagen der Ruder und vom gelegentlichen Husten Garbrands, dem es inzwischen so schlecht ging, dass Jan befürchtete, dass er die Ankunft in Ostfriesland nicht mehr erlebte.
Auch jetzt war sein Atem zu flach und zu schnell. Es war nicht mehr weit, sie befanden sich schon in der Jade und würden das Schwarze Brack bald erreicht haben. Immer wieder glitt Jans Blick auf seinen Reisegefährten, der ihm auf dieser Reise ein wirklicher Freund geworden war. Obwohl sie Welten trennten, gab es doch kaum einen Menschen, der ihm in seinem Leben so nahegekommen war wie dieser Mönch. Eigentlich war es nur diese eine Frau gewesen, der er gestattet hatte, in sein Herz zu sehen; danach wollte er das keinem mehr zugestehen, wollte nie wieder verletzt werden, weil er sein Innerstes nach außen gekehrt hatte.
Manchmal beschlich Jan die Vermutung, dass er sich Garbrand gegenüber so öffnete, weil der ihn vorbehaltlos bewunderte. Jeder Satz, der Jan über die Lippen glitt, schien den Mönch zu fesseln und wichtiger zu sein als die Episteln der Bibel, auch wenn er diese ständig auf Latein vor sich hinbrabbelte. Trotz seines Fiebers hatte Garbrand in den Augenblicken, wo er sich unbeobachtet fühlte, die Hände zum
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