Hiske Aalken 01 - Die Lebenspflückerin
»Und da glaubt Ihr tatsächlich, mit einem oder zwei Bauernopfern wäre es getan?«
Schemering nickte. »Dann wär erst mal Ruhe. Die Leute haben große Angst.«
Jan lachte auf. »Ihr wollt eine junge unschuldige Frau und ein Kind aufknüpfen, weil sie ohnehin nicht hierherpassen?« Er sprang auf und hieb mit der Faust auf den Tisch, dass der Becher Bier umkippte. »Verdammt! Ich habe mein Leben riskiert, Schemering, um Euch eine Botschaft zu überbringen, deren Inhalt ich nicht mal kenne. Nach meinem Verschwinden bei diesem Johannes, der eigentlich Rothmann heißt, ist sein Wächter gleich ermordet worden. Ich komme hierher und finde einen getöteten Täufer, der sich unter dem Deckmantel des reformierten Glaubens versteckt.« Er sah dem Landrichter fest in die Augen. »Für was habe ich das alles getan? Um Unschuldige ans Messer zu liefern, weil sie Euch gerade im Weg sind? Es wird die beiden ihren Kopf kosten, wenn Ihr sie anklagt, Schemering! Man wird sie aufhängen oder auf den Scheiterhaufen brennen lassen! Und das wollt Ihr?«
Der Landrichter sackte in sich zusammen. »Krechting und ich dachten, es sei eine Lösung, mit der alle gut leben können.« Dann sah er den Arzt an. »Ihr seid gut bezahlt worden.«
Jan ignorierte den Einwand. »Es kann weitere Tote geben, wenn Ihr nicht den wahren Mörder findet.« Er ließ sich auf den Stuhl sinken, griff nach dem Stück gelben Käse, den Schemerings Frau auf den Tisch gestellt hatte. Sie wischte den Boden auf und füllte Jan erneut Bier in den Becher. Er trank einen Schluck. Das Gesöff war nur mit dem gleichzeitigen Genuss von Käse erträglich. »Der Anschlag auf Krechting ist das beste Zeichen dafür, wahrscheinlich hat er nur Glück gehabt, dass er noch lebt.«
Schemering war aufgestanden. Er lief vor dem Fenster auf und ab, hatte die Hände auf dem Rücken verschränkt. Seine Miene war verschlossen. Jan konnte nicht erkennen, ob seine Worte den Juristen erreicht hatten. Er hoffte es inständig. Obwohl er weder die Hebamme noch dieses arme Kind kannte, das scheinbar durch Verwahrlosung zu einem Verrückten geworden war, so war ihm doch klar, dass man hier eine Last auf deren Schultern abladen wollte, unter der beide zerbrechen würden.
»Was sollen wir tun, Valkensteyn?«
»Den wahren Mörder finden. Eine andere Lösung sehe ich nicht.«
In der Nacht waren Leute über das Meer gekommen. Mit der Flut war wieder ein großes Schiff angelandet und hatte sie ausgespuckt. Die Menschen ergossen sich in das Land wie die kleinen Ameisen, die ihn an den Füßen kitzelten. Nur verschwanden sie nicht in den Löchern und Ritzen, sondern breiteten sich immer weiter aus. Der Burghof würde bald platzen wie ein eitriges Geschwür, und die Menschen würden mit ihrer Schlechtigkeit in das Land drängen und es besudeln. Je mehr kamen, desto mehr würden sie das Meer bezwingen wollen, damit sie genug Platz hatten. So weit hatte er es schon erfasst.
Heute wollte der Knabe zu der Frau gehen, sie musste ihm ein wenig Bauchfreude bereiten. Der Bauch schmerzte so sehr. Seit der letzten Mahlzeit bei ihr hatte er nur etwas Milch zu sich genommen, die er direkt aus dem Euter einer Kuh getrunken hatte. Dazu war es ihm in der vergangenen Nacht gelungen, im Lager ein Stück gebratenes Huhn und einen Laib Brot zu stehlen. Es war aber nicht nur der Hunger, der ihn zu ihr hinzog. Es war ihr Geruch, der ihm fehlte. Es war die Stimme, die sein Ohr gestreichelt hatte, und die Augen, die voller Wärme gewesen waren. Sie war eine wichtige Frau, denn sie holte das Leben auf die Welt. Das gefiel ihm. Sie war eben eine Lebenspflückerin. Sie zupfte die Kinder aus den Bäuchen der Frauen und hauchte ihnen Leben ein, schenkte ihnen mit ihren Händen das leise Weinen, das sie auswies, nun zu den Lebenden zu gehören. Der Knabe zuckte zusammen. Er hatte eben selbst ein Wort erfunden. Zum ersten Mal in seinem Leben. Ein Wort für die Frau. Er lachte auf, sprang herum, tanzte zu einer Melodie, die er selbst erdacht hatte. Dabei streichelte er seinen Arm an der Stelle, wo sie ihn berührt hatte. Es war dort immer noch warm. Sie war eine Lebenspflückerin. Die Frau, der Mensch, der so gut, so rein, so schön war, war eine Lebenspflückerin. Der Wortsammler drehte sich immer schneller im Kreis. Er würde zurückgehen. Zurück zu ihr, wieder in der Kammer auf seiner Lagerstatt schlafen und endlich zu jemandem gehören. Sie hatte ihm die Worte geschenkt, und nun konnte er es auch schon selbst tun. Er
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