Hiske Aalken 01 - Die Lebenspflückerin
als sein Onkel. Welch Glückes Geschick, dass die Hebamme den Jungen genau in dieser Nacht aufgenommen hatte und seine Anschuldigungen so auf fruchtbaren Boden fielen.
Das Leben meinte es gut mit ihm. So richtig gut.
»Gibt es einen weiteren, wirklichen Verdacht?« Jan saß am Tisch vor seiner Milchsuppe. Er hatte nur wenig geschlafen, war schon bald, nachdem er die Augen geschlossen hatte, vom Krähen des Hahns wieder geweckt worden. Aber er kam mit wenig Schlaf aus, er war es gewohnt.
»Wir tappen sonst im Dunkeln. Aber jeder hat große Angst, es könne bald den nächsten treffen.«
Jan presste die Lippen aufeinander. »Es kann doch wirklich jemand aus dem Lager gewesen sein«, gab er zu bedenken. »Vielleicht sind nicht alle damit einverstanden, wie es hier läuft.« Er zeigte auf das Bier, deutete dann auf das trockene Brot. »Es gibt bestimmt Menschen, die Besseres gewohnt sind. Die Zustände sind teilweise menschenunwürdig. Und von Ascheburg hatte das zusammen mit Euch zu verantworten. Jetzt der Anschlag auf Krechting. Ich sehe da einen Zusammenhang.«
Schemering winkte ab. »Die Menschen sind allesamt geflohen, wären sonst vermutlich tot oder müssten täglich um ihr Leben fürchten. Wer sollte sich das Nest kaputt machen, in dem er sitzt?«
Jan grinste. »Da gibt es genug, das wisst Ihr als Richter doch selbst. Der Mensch ist in seinem tiefsten Inneren unzufrieden, und wenn etwas nicht so läuft, wie er es gern hätte …«
»Wir Täufer halten zusammen. Immer«, sagte Schemering, aber es klang nicht wirklich überzeugt. Jan sah ihm an, dass ihn die ungeklärte Frage nach dem Mörder belastete und er daher nur zu gern die Gerüchte aufgriff, um einen, wenn auch zweifelhaften, Erfolg zu haben. »Was war von Ascheburg für ein Mann? Hatte er Feinde?«
Schemering runzelte die Stirn. »Keiner würde sich an denen vergreifen, die sie schützen.«
Jan hatte da so seine Zweifel. »Der Mensch ist nicht grundsätzlich dankbar oder friedlich«, begann er. »Es können persönliche Gründe sein, die eine Rolle spielen. Eifersucht zum Beispiel. Oder Neid. Hat vielleicht jemand seinen Platz begehrt? Er hatte doch ziemliches Ansehen, oder?«
Schemering nickte. »Er war der Lokator und damit verantwortlich für den Bau des Siels. Krechting plante alles, und die beiden kümmerten sich dann zusammen darum, dass es geschah. Außerdem war von Ascheburg auch so etwas wie unser Prediger.« Er blickte abwartend zu dem jungen Arzt, der den Kopf nachdenklich hin und her wiegte.
»Gibt es denn jemanden auf der Burg, der gern seine Stellung gehabt hätte oder jetzt ohne ihn die Möglichkeit hat, sie zu bekommen?«
Schemering zuckte zurück. Jan Valkensteyn hatte in eine Wunde gestochen. »Der Bader. Dudernixen. Er hat seine Finger überall drin, hält sich auch oft am Siel auf. Hat Ahnung, der Mann. Bevor er Bader wurde, hat er in Holland Deiche gebaut.«
»Und dann ist er Bader geworden?« Jan konnte es nicht fassen. Kein Wunder, dass die Menschen in den Dörfern starben wie die Fliegen, wenn man Heiler auf sie losließ, die eigentlich bessere Handwerker waren. Aber das kannte er bereits zur Genüge. Irgendwer fühlte sich berufen, weil er es verstand, mit Gewalt ein paar Knochen zu richten, und wurde so zum Bader. Die Leute brauchten den Berufsstand, denn einen Arzt wie ihn konnten sich die meisten nicht leisten. Also gingen sie zum Bader, der sie im Zweifelsfall zur Ader ließ oder schröpfte. Dass es noch andere Wege gab, leuchtete vielen nicht ein, woher sollten sie es auch wissen. Er selbst hatte auf der Universität viel erfahren, aber ihm war mittlerweile auch klar, dass selbst dieses Wissen nur sehr unvollständig war. Der Arzt von Galen hatte oft geirrt. Es brauchte mehr Menschen, die es wagten, Bücher wie das von Vesalius zu schreiben. Erst vor zwei Jahren hatte er sein
De humani corporis fabrica libri septem
in Basel publiziert. Jan hatte das große Glück gehabt, es lesen zu können.
»Dudernixen wird jetzt also Lokator?«, nahm er das Thema wieder auf. Er durfte mit seinen Gedanken nicht abschweifen. Seine Forschungen zur Medizin würde er bald wieder aufnehmen können. Sowie er dieses unwirtliche Land verlassen hatte.
Schemering schürzte die Lippen. »Zumindest diskutieren Krechting und ich darüber. Dudernixen ist ein fähiger Mann. Er ist gebildet, und die Leute im Lager haben vor ihm den nötigen Respekt.«
Er hat einen großen Vorteil davon, dass von Ascheburg weg ist, dachte Jan. »Wenn Ihr aber
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