Hiske Aalken 01 - Die Lebenspflückerin
hatte ein Wort erfunden. Sein erstes, eigenes Wort. Der Knabe japste es lauter und lauter, bis es sich zu den Wipfeln der Bäume erhob und zu den Wolken segelte. »Lebenspflückerin! Lebenspflückerin!«
Er würde auf sie aufpassen. Sein Leben lang.
Tyde starrte am frühen Morgen auf den Burghof, der von oben so lebendig wirkte. Sie dagegen saß Tag für Tag in ihrer Kammer und wartete darauf, dass Hebrich sie mit kleineren Aufgaben betraute. Die Herrin hatte beschlossen, ihr keine schweren Arbeiten zuzumuten, weil Tydes Schwangerschaft doch schon weiter fortgeschritten und nun auch nicht mehr zu übersehen war. Ab und zu durfte Tyde mit Hebrichs Kindern in den Burggarten gehen, doch meist saß sie mit einer Stickarbeit auf den Knien und war froh, wenn der Tag sich neigte.
Wider Erwarten freute sie sich jetzt auf das Kind, würde es doch ihren tristen Alltag ein wenig erhellen und Abwechslung bringen. Immer häufiger fühlte sie die Kindsbewegungen, die ihr das werdende Leben näherbrachten. Sie würde in den nächsten Tagen auch die neue Hebamme aufsuchen, so suspekt sie ihr zu Beginn auch gewesen war. Sie hatte sie beobachtet, jetzt wo sie viel Zeit hatte, die Welt zu erkennen, und weder die Sorge um den neuen Tag noch um ihren untreuen Ehemann sie daran hinderten. Hiske Aalken war eine umsichtige Frau, die wusste, was sie tat. Tyde kam sich vor, als beobachte sie die Welt von ihrem Elfenbeinturm herab und habe so den besseren Überblick über das Geschehen. Es lief bei den Menschen im Lager so vieles schief, es war kaum einer auf dem richtigen Weg.
Erst gestern hatte sie gehört, dass man die Hebamme des Mordes an Cornelius verdächtigte. Magda und Melchior Dudernixen behaupteten das, und Krechting und Schemering schienen diese Anschuldigung dankbar aufzugreifen. Das hatte Tyde auf ihren Gesichtern wohl erkannt. Magda musste von sich ablenken, denn sie war schwanger, und das ganz sicher nicht von Dudernixen. Tyde ahnte, dass das Balg unter ihrem Herzen von Cornelius war. Dass er auch Magda beglückt hatte, war ihr schon bald klar gewesen; ihre Blicke waren ganz eindeutig gewesen. Für sie war es fast beunruhigend zu sehen, wie gelassen Dudernixen die Schwangerschaft aufgenommen hatte. Tyde fragte sich zum wiederholten Mal, ob er es wirklich nicht ahnte oder was er sonst im Schilde führte, wenn er es wusste. Tyde hasste Magda. Sie war eine schöne Frau. Zwar recht kräftig um die Hüften und das Gesicht eine Spur zu rund, doch ihre Haut war glatt und feinporig. Im Gegensatz zu ihr verunstaltete keine Sommersprosse das Gesicht, und sie hatte zumindest Brüste, keine winzigen Kirschen wie sie. Nicht einmal während der Schwangerschaft waren sie so gewachsen, dass Tyde sie als solche bezeichnen würde. Schon immer hatte sie ihren knabenhaften, blassen Körper gehasst und war erstaunt gewesen, dass der stattliche und einflussreiche Cornelius von Ascheburg gerade ihr den Hof machte. Mittlerweile wusste sie, warum. Er hatte sie als Schutzschild gebraucht. Er, der
vogelfreye
Täufer, hatte eine Andersgläubige aus der Herrlichkeit geehelicht und geriet so nicht in Verdacht, noch immer dem gefährlichen Glauben anzuhängen. So konnte er unbehelligt als Reformierter untertauchen und seine wahre Gesinnung in den gruseligen Katakomben der Burg ausleben.
Tyde hasste diesen Kellerraum, den Krechting zur Täuferkirche umfunktioniert hatte. Die Frauen mussten in der Mitte des muffigen Saals sitzen, demütig. Dann wurde der Märtyrer gedacht, ihre Qual und Pein bei den Hinrichtungen wieder und wieder erzählt, bis es kaum noch zu ertragen war. Tyde hatte es als folgsame Frau hingenommen. Bis sie dahintergekommen war, welche Betten ihr Gemahl noch aufsuchte. Da war sie schon schwanger gewesen. Von dem Zeitpunkt an hatte sie sich meist geweigert, ihn zu den Zusammenkünften zu begleiten. Ihm war nicht nur einmal die Hand ausgerutscht, ungeachtet der Tatsache, dass sie sein Kind unter dem Herzen trug. »Du wirst meinen Stammhalter gesund auf die Welt bringen, Tyde«, waren seine Worte. »Und ich mache in der Zeit das, was mir gefällt!«
Er war einfach davongegangen. Abend für Abend, Tag für Tag. In ihr war ein Hass gegen ihn gewachsen, der immer schwerer zu bändigen war. Sie träumte davon, ihn zu quälen und zu demütigen, stellte sich vor, wie er sie, die schwache Tyde, angewinselt und ihr ewige Treue geschworen hätte, wenn ihm bewusst gewesen wäre, wie oft sie das Messer in der Hand gehabt hatte. Tyde schleuderte die
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