Hiske Aalken 02 - Der Meerkristall
die Dunkelheit. Garbrands Rufe verhallten in der Nacht, als seien sie in Watte gepackt. »Wortsammler, komm zurück!«
Amsterdam 1524
Die Witwe erwacht von einem Kratzen an der Tür. Es ist spät am Abend, nur der Nachtwächter dreht seine Runden, stört die Stille, wenn er die Stunden ausruft und kontrolliert, ob die Feuerstellen gelöscht sind.
Dieses Geräusch aber passt nicht in die Nacht. Die Witwe steht auf, wirft einen Blick auf ihr Kind, das im Nebenzimmer mit seiner Magd schläft. Es atmet ruhig. Immer wenn sie es ansieht, sieht sie ihn. Den Mann, den es eigentlich gar nicht gibt und der dennoch ihr Herz besetzt, sodass es kaum zu ertragen ist. Das Kind ist sein Geschenk an sie, doch er hat es von Beginn an als Fluch empfunden. Sein Leben ist gottgeweiht. Gott und dem Papst. Gott und der Kirche.
»Ich darf keine Kinder haben. Ich bin dem Herrn befohlen, alles Weltliche ist mir fremd.« Dennoch kam er zu ihr, so oft es ihm erlaubt war. Flüsterte ihr warme Worte ins Ohr, war ihr mehr Mann, als der, dem sie anvertraut war.
Der hatte nebenan geschlafen, alt, dem Tod geweiht und fern aller Lust. So lange, bis sein Herz endgültig aufgehört hatte zu schlagen.
Die Witwe schleicht zur Tür. Das Kratzen hat aufgehört. Es ist still wie eh und je. Vorsichtig dreht sie den Schlüssel im Schloss, drückt die Klinke herunter und zieht die Tür einen Spalt breit auf. Zu ihren Füßen liegt eine kleine Schachtel, die mit einer Schleife umwickelt ist. Der Witwe rast das Herz. Sie ahnt, von wem das Geschenk ist, und sie weiß, warum es dort liegt. Mit zitternden Händen hebt sie das Präsent an, schließt die Tür und lehnt sich von innen mit dem Rücken dagegen, während sie das Paket an ihr Herz drückt. So steht sie eine lange Zeit, bevor sie es wagt, zurück in ihre Kammer zu gehen und es im Schein des Mondes, der sich heute in seiner vollen Größe zeigt, zu öffnen.
Die Gravur auf dem Medaillon ist so schön, dass ihr Atem stockt. Das Schmuckstück muss mit großer Inbrunst und viel Herzblut gearbeitet sein. So als fürchtete der Erschaffer zu sterben, wenn er auch nur einen Strich an die falsche Stelle setzte. Die Witwe klappt das Medaillon auf und erkennt die ewige Träne darin.
Er aber ist fort. Für immer.
4. Kapitel
Hiske konnte sich erst in den frühen Morgenstunden auf den Weg zurück nach Hause machen. Die Geburt hatte sich endlos hingezogen, bis die Frau schließlich völlig erschöpft das kleine Wesen in die Welt entlassen hatte. Hiske war nicht sicher, ob es lange auf Gottes Erde weilen würde, denn es war schwach, zeigte nur wenig Überlebenswillen. Hinzu kamen die geringe Körpergröße und das mangelnde Gewicht. Das Mädchen schien schon im Mutterleib nicht mehr ausreichend versorgt worden zu sein. Es grenzte an ein Wunder, dass es überhaupt lebte.
Hiske war sehr müde und hoffte, der Wortsammler würde sie gleich ein wenig schlafen lassen. Trotz seiner zwölf Lenze und der wachsenden Manneskraft benahm er sich oft wie ein Kleinkind. Er würde den Mangel an Zuwendung und Nahrung in den ersten Lebensjahren nie wirklich aufholen können. So sehr sich Hiske auch bemühte: Er war und blieb ein Sonderling, dessen Gedanken und Verhaltensweisen ihr oft undurchschaubar bleiben würden. Dennoch empfand sie für ihn eine Art Liebe, die der einer Mutter sicher sehr ähnlich war.
Hiske und Garbrand waren die einzigen Menschen, denen der Knabe bedingungslos vertraute, wie auch immer der Mönch das fertiggebracht hatte. Vermutlich war es wirklich so, dass sich zwei einsame Wölfe gefunden hatten, die sich auf diese Weise gegenseitig stützen konnten.
Hiske schlug sich ihr Tuch um die Schulter und trat vor die Tür. Es war noch immer unerträglich warm, die Nacht brachte schon seit Wochen keinerlei Abkühlung mehr.
Auf der Straße war es unruhig. Ihr kamen die ersten Deicharbeiter entgegen, die aber nur noch Restarbeiten zu verrichten hatten, da der Deich fertiggestellt war. Es waren überhaupt schon ungewöhnlich viele Menschen auf den Beinen, sie erkannte unter ihnen auch den Wortsammler und Garbrand, was auch immer sie zu solch früher Stunde hier trieben. Auch Dudernixen und der Landrichter Wolter Schemering sowie Jan Valkensteyn eilten mit großen Schritten in Richtung des neuen Siels. Schlagartig war Hiske hellwach und folgte dem Aufmarsch. Es musste etwas Außergewöhnliches geschehen sein, wenn sich die Leute um diese Zeit zum Hafen bewegten. Hiske vermutete, dass wieder ein Hulk angelegt
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