Hiske Aalken 02 - Der Meerkristall
hatte.
Über der See waberte eine dünne Schicht Nebel, in die sich vereinzelt ein paar Sonnenstrahlen bohrten. Es würde eine Weile dauern, ehe sie den Kampf gegen den Dunst gewinnen würden. Ein Schiff aber war nicht angelandet.
Am neuen Siel hatte sich eine Menschentraube gebildet. Hiske bahnte sich einen Weg durch die Menge, blieb dann erschrocken stehen, als sie sah, was die Leute hierhergetrieben hatte. Auf der Wasseroberfläche trieb ein Toter. Er dümpelte sacht hin und her, sein Arm pendelte auf und nieder, als winke er allen einen Abschiedsgruß zu.
»Das ist Friso van Heek, dieser Kaufmann!«, sagte eine schrille Stimme, die Hiske nicht zuordnen konnte. Sie sah sich nach Jan um, der sie jetzt auch erkannt hatte und sich zu ihr durchkämpfte.
»Weißt du schon, wie er verstorben ist?«, fragte Hiske und verzichtete auf die morgendliche Begrüßung.
Jan hingegen nahm ihre Hand, was sie zusammenzucken ließ. »Moin, Hiske. Ja, es scheint tatsächlich, als sei er ertrunken, aber wir wissen erst Näheres, wenn sie ihn herausgefischt haben und ich ihn genau untersuchen kann. Bin auch erst kurz vor dir hier angekommen.«
Ein paar Männer waren eben dabei, die Leiche mit Stecken ans Ufer zu ziehen. Es gelang ihnen aber erst nach mehreren Versuchen, dann bekamen sie sein Wams zu fassen und konnten ihn an Land hieven. »Dass Tote immer so schwer sein müssen«, stöhnte einer der Männer. Es war ein Deicharbeiter, der Hände wie Schaufeln und Oberarme wie Baumstämme hatte, doch auch ihm machte der stämmige Körper des Toten zu schaffen. Endlich lag Friso van Heek im Gras, das Haar hing ihm strähnig in der Stirn, aus der Nase tropfte mit Wasser verdünntes Blut. Ein paar der Umstehenden mussten sich abwenden.
»Warum der wohl tot ist?«, fragte ein Weib. »Er war eine so stattliche Erscheinung!«
»Ist aber bestimmt einer, der gern anderen Röcken nachgestellt hat«, mutmaßte ein anderes Weib, woher auch immer sie diese Eingebung haben mochte.
Die meisten der Frauen nickten. Solche Männer waren in der Neustadt weiß Gott nicht gern gesehen, denn auf was die Frauen stolz waren und was sie mit Achtung trugen, waren ihre Moral und ihre schlichte Lebensweise. Auch wenn Hiske Krechtings Maßnahmen oft für übertrieben hielt: Die meisten Menschen hier hatten sich bewusst für diese Lebensform entschieden und empfanden sie als Berufung, nicht als Opfer. Trotzdem wird es ihnen bestimmt irgendwann zu viel, das Leben ist doch nicht nur trist und grau, dachte Hiske. In den paar Jahren, die sie hier lebte, hatte sie aber gelernt, solche Dinge besser nicht laut zu sagen. Sie hatte sich hier eingelebt, sich Respekt verschafft und verspürte keine Lust, das alles mit ein paar dummen Bemerkungen zu zerstören. Die Herrlichkeit Gödens bot ihr Sicherheit, sie wurde nicht mehr als Toversche verfolgt. Wenn man von ihren Gefühlen für Jan Valkensteyn absah, hatte sie sich noch nie so angekommen gefühlt wie in ihrer Zeit am neuen Siel. Krechting hatte ein eindeutiges Machtwort gesprochen, was die Hexenverfolgungen in Gödens anging. Das war nach ihrer Zeit in Jever mehr, als sie vom Leben hatte erwarten können. Sicherheit war etwas, das sie viele Jahre ihres Lebens nicht gekannt hatte und das sie hier einhüllte wie ein warmes Tuch. Und jetzt war auch Jan wieder zurück.
Der untersuchte nun Friso van Heek. Er drehte ihn auf den Bauch, tastete den Haaransatz ab, sah ihm in die Augen, die leer und weit aufgerissen in den Himmel blickten. Als Jan aufstand, hatte er Blut an der rechten Hand. Er wandte sich zum Schwarzen Brack und wusch es im dunklen Wasser ab. Danach trat er auf Wolter Schemering zu. »Ich tippe auf Erschlagen. Er hat eine Wunde am Hinterkopf. Vermutlich ist er anschließend ins Wasser geworfen worden. Wir müssen noch eine richtige Leichenschau durchführen, dann kann ich vielleicht mehr sagen.«
Der Landrichter nickte. »Machen wir gleich im Anschluss. Wir bringen den Toten auf die Burg. Ich gebe meinem Ohm Hinrich Krechting Bescheid.«
Hiske trat einen Schritt zurück und erblickte die Marketenderin Anneke, die arg übernächtigt aussah. Sie schien mehr unter ihrer Armut zu leiden, als sie zugeben wollte. In den letzten drei Jahren war sie dünn geworden, winzige Falten kerbten nicht nur ihre Augenregion, sondern auch ihre Wangen und die Partie unterhalb des Mundes. Am heutigen Tag sah sie jedoch zum Fürchten aus. Es war, als hätten sich sämtliche Schatten der Nacht in ihren Gesichtszügen
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