Hiske Aalken 02 - Der Meerkristall
war klein, aber es gelang ihr, die Umgebung wenigstens schemenhaft zu erkennen. Magda konnte nicht sagen, wie lange sie schon auf ihrer Bettstatt verharrte. Sie hatte weder gegessen noch getrunken, das wäre mit ihrem geschundenen Mund eine Tortur gewesen. Magda beobachtete eine Spinne, die ihr Netz spann, und wie sich eine Fliege darin verfing. Die Spinne wickelte sie ein und wartete auf ein weiteres Opfer. Die Badersfrau fühlte sich beinahe selbst wie die Fliege. Sie saß inmitten von klebrigen Fäden gefangen und hatte keinerlei Möglichkeiten, sich daraus zu befreien.
Der Tag neigte sich dem Ende zu, es würde zwar noch lange nicht dunkel werden, aber auf der Straße waren die Geräusche des beginnenden Abends zu vernehmen. Die unangenehmen Gerüche aus den Abtrittgossen ließen mit der beginnenden Kühle des Abends nach, sodass Magda es nun wagte, das Medaillon abzulegen, aufzustehen und ein Fenster zu öffnen. Sie lehnte sich hinaus, sog die Luft ein und versuchte sich zu entspannen. In ihre Nase kroch der Geruch von frisch Gebratenem und gekochtem Gemüse. Darunter mischte sich unverkennbar der des Wattenmeeres. Es duftete nach Sommer, und es hätte ein friedlicher Geruch sein können, wäre da nicht die letzte Nacht gewesen. Die Nacht mit ihrem Schrecken, die Nacht, die alte Wunden aufgerissen hatte.
Magda versuchte, einen Blick aufs Schwarze Brack zu erlangen, aber der Bau der Neustadt war mittlerweile so weit fortgeschritten, dass ihr die Nachbarhäuser die Aussicht verwehrten. Zu gern aber hätte sie sich jetzt den Seewind um die Nase wehen lassen. Nur konnte sie sich in ihrem Zustand nicht auf die Straße wagen. Sie fürchtete, jeder könnte erahnen, was in ihrem Kopf vorging, auch wenn sie das ganze Ausmaß selbst nicht erkannte. Magda kniff die Augen zusammen, lauschte dem Rollen der vorbeischiebenden Karren, hörte hin und wieder Hufgetrappel und die Stimmen der Menschen, die in der Neustadt noch zu tun hatten. Sie konzentrierte sich voll darauf. Es verhinderte, dass ihre Erinnerungen zurückkamen, Gedanken, die sie nicht zulassen wollte. Sie kniff die Augen fester zu, doch auch das half bald nichts mehr. Nach und nach erklommen ihre Erinnerungen die Barrieren, lugten dahinter hervor und kletterten schließlich darüber hinweg. Sie begehrten Einlass, klopften an. Hinter Magdas Schädel wurde das Pochen stärker und stärker, sie knallte das Fenster zu, warf sich zurück auf die Bettstatt und presste die Hände auf ihre Ohren.
Nach einer Weile beruhigte sich der Lärm, und sie wagte, sich aufzusetzen und das Medaillon erneut in die Hand zu nehmen. Ihr Zeigefinger glitt über die Oberfläche. Das Bild des Kristalls war schön. Jeder Strich war sorgfältig gearbeitet, kein Stück zu lang oder zu kurz. Es musste ein wahrer Meister gewesen sein, der das Schmuckstück hergestellt hatte. Obgleich Magda die Hände zitterten, fasste sie nach dem Verschluss und ließ das Medaillon aufklacken. Es war innen mit dunkelblauem Samt ausgekleidet, in den mit goldenen Fäden ein Sternenhimmel gestickt war, der in Wellen aus Gold badete. In der Mitte aber fehlten sie. Dort befand sich lediglich ein tropfenförmiger Abdruck.
Das Medaillon war leer.
Nun fielen sie ihre Erinnerungen an wie hungrige Wölfe, rissen alle Absperrungen ein. Sie wollte die Bilder verdrängen, es gelang ihr nicht. Magda wälzte sich auf die Seite, die Spitze des Verschlusses bohrte sich schmerzhaft in ihre Handfläche.
Wäre sie doch gestern am späten Abend nicht noch hinausgelaufen, weil sie, wie so oft, von der Angst geplagt wurde, das Fieber könne sie ereilen. Ihr eigenes Kind war sehr rasch verstorben, aber sie hatte die heißen Köpfe der anderen gesehen. Deren Fieberträume, deren Qualen. Es war ein grausamer Tod, den sie nicht erleiden wollte. Ihre Furcht trieb sie immer wieder zu der Hebamme. Diese hatte Kräuter, Tinkturen und Salben. Magda wollte vorsorglich alles haben, schlucken oder sich einreiben. Hauptsache, sie wurde nicht krank. Hauptsache, sie ereilte nicht das Schicksal ihres Kindes.
Sie war mitten in der Nacht zur Kate der Hebamme gelaufen. Die aber war nicht dort gewesen. Als Garbrand ihr gesagt hatte, dass sie bei der Bäckersfrau war, hatte auch Magda sich erinnert, doch nun musste sie in der Dunkelheit den ganzen Weg von der roten Kate zurück in die Neustadt laufen. Hoffen, noch vor Melchior zurück zu sein, der vermutlich seine Gelüste wieder im Duuvkehuus auslebte. Magda hatte sich beeilen wollten, doch kaum
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