Hiske Aalken 02 - Der Meerkristall
war.«
Anneke zögerte. »Aber dennoch möchte ich sagen, dass du nichts von dem weißt, was mich bewegt. Du hast deine Zaubereiprozesse als alte Last, mich quälen andere Erinnerungen. Mein Flüchtlingsdasein ist etwas anders geprägt als deins. Ich habe meine Heimat verlassen müssen, wir wurden in Holland wegen unseres Glaubens auf Leib und Leben verfolgt. Ich bin hierhergekommen, wo man nicht mal unsere Sprache spricht und es zunächst war wie beim Turmbau zu Babel. Jeder sprach anders, jeder verstand ein bisschen etwas, bis wir alle gelernt haben. Aber lassen wir die alten Geschichten.« Sie wies Hiske mit der Hand zur Tür. »Und du bist sicher, dass du schweigst, dass kein Mensch erfährt, was du gesehen und gehört hast?«
»Ganz sicher. Solange du sorgsam mit Lina umgehst und ihr Leben nicht aufs Spiel setzt. Wenn du sie fortschickst, soll sie stark und gesund sein, denn sie muss es mindestens bis Emden schaffen, vielleicht weiter. Das geht nicht, wenn sie so schwach ist. Warte wenigstens diese Zeit ab.« Hiske ging hinaus. Sie musste sich beeilen, denn wenn sie nicht bald ins Bett kam, würde sie zusammenbrechen. Das Gespräch mit Anneke war fast über ihre Kräfte gegangen. Die Marketenderin hatte schon den Wortsammler an Hiske verloren, wie viel mehr Kraft würde sie nun daransetzen, Jan für sich zu gewinnen?
Als sie die Neustadt verlassen hatte, glaubte Hiske, Schritte hinter sich zu hören, doch als sie sich umwandte, war niemand zu sehen. Sie setzte sich erneut in Bewegung, hielt die Luft an, verlangsamte ihren Schritt. Sie war sicher, nicht allein zu sein.
Amsterdam 1529
Dem Kind tut alles weh. Es weiß nicht, was genau sie mit ihm getan haben, nur, dass es nicht mehr leben will. Es kann kaum aufstehen, jede Bewegung ist eine Qual. Mittlerweile hat sich die Dunkelheit über die Stadt gelegt, es ist ruhig geworden. Jeder Karren, jeder Wagen hat den Marktplatz verlassen. Aus den Häusern dringt der Duft von Essen, die Kerzen hinter den Fenstern malen helle Rechtecke in die dunklen Mauern.
Das Kind will nach Hause und weiß doch den Weg nicht. Es hat das Gefühl, ein anderer Mensch zu sein als der, der vor kurzer Zeit in den Dreck geworfen wurde. Nichts wird je wieder so sein wie zuvor. Schon scheint es ihm, als sei es aus seiner alten Haut geschlüpft und verkrieche sich nun in eine dickere. Eine, die es schützt vor dem, was eben mit ihm passiert ist. Oder wenigstens den Schmerz in der Mitte des Bauches nicht heranlässt. Denn der tobt noch heftiger als der zwischen den Beinen. Das Kind schaut zum Himmel, der sich mit den ersten Sternen schmückt. Er sieht lebendig aus, fast zu schön, als dass es zu dem passt, was eben unten auf der Erde geschehen ist. »Wo bist du, Gott? Hast du geschlafen?«, fragt das Kind. Es bekommt keine Antwort.
Das Kind wickelt die zerfetzten Sachen um sich, schleicht sich im Schutz der Häuser durch die Gassen, sucht nach dem richtigen Weg. Es wendet sich nach links und nach rechts, kommt nach einer Weile wieder genau dort an, von wo es losgelaufen ist. Dort lehnt es sich mit dem Rücken an die Hauswand, atmet tief ein und versucht sich zu orientieren. Schließlich weiß es, in welche Richtung es gehen muss, und so schleicht es ein weiteres Mal los.
Niemals darf es jemandem sagen, was die Jungen mit ihm getan haben, dann werden sie es beim Seifensieder verpfeifen, und Dieben hackt man die Hand ab. Es will seine Hand aber behalten, die Mutter nicht beschämen, die hat es schwer genug. Eines weiß das Kind sicher: Das, was mit ihm passiert ist, ist eine große Schuld, über die es niemals reden wird.
Erst heute hat wieder einer der Priester auf dem Markt gestanden und gepredigt, was sie alles nicht dürfen. Sogar die Gaukler sind Sünde. Jeder Besitz ist Sünde, wenn er nicht der Kirche gehört. Sicher auch das Stück Seife. Das sowieso, weil es gestohlen ist. Spaß ist Sünde. Spaß hat das Kind nur wenig, da ist es rein. Lachen tut es nicht. Worüber auch.
Als es in die Straße einbiegt, wo sich die Kammer befindet, steht das Fenster offen, der Mann ist also weg. Mutter wird schon warten, hat vielleicht ein kleines Stück Brot und etwas Milch auf dem Tisch. Das hat sie manchmal, wenn ein Mann gegangen ist.
Das Kind kriecht die Treppen hoch, jeder Schritt ist eine Qual. Es fühlt sich nass zwischen den Beinen an, und es will gar nicht wissen, was das ist. In der Kammer ist das Laken vor der Bettstatt der Mutter beiseitegeschoben, sie sitzt am Küchentisch und
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