Hiske Aalken 02 - Der Meerkristall
Wittenberg und Genf drittes reformatorisches Zentrum werden könnte.
Mit jedem Schritt, den Krechting gemacht hatte, war bei diesen Gedanken der Reiz, in die Stadt zu fahren, gewachsen, und als er schließlich vor seinem Hof stand, war er davon überzeugt gewesen, dass Hebrich mit dieser Entscheidung doch die richtige für ihn getroffen hatte.
Diese Erkenntnis hatte sich in der vergangenen Nacht manifestiert, und nun schlug das Herz des Juristen ein wenig höher, weil er in wenigen Stunden in See stechen und die Herrlichkeit seit vielen Jahren einmal wieder verlassen würde. Er musste zwar auch in Emden weiter äußerst vorsichtig sein, auch wenn er kein Täufer mehr war. Aber niemand konnte ihm Gespräche mit anderen über die Religion untersagen. Er sollte sich auch um das Stadthaus kümmern, das die Häuptlingswitwe errichten lassen wollte. Mit dem Bau dieses Hauses würde er immer wieder Gründe haben, nach Emden zu reisen. Auch wenn seine Pläne für das Neue Jerusalem gescheitert waren, weil in der Neustadt die Mennoniten mehr Macht als die Täufer aus Münster hatten und alles, wirklich alles anders gelaufen war, als er gedacht hatte, war er nun wieder voll Unternehmungsgeist, voll Schwung und Zuversicht, dass sein Leben eine gute Wendung nehmen würde. All die Unbill hatte sich gelohnt.
Krechting sprang auf, schlüpfte in die am Abend zurechtgelegten Beinkleider, seine fußlosen Hosen mit ausgeprägter Schamkapsel, die seine Frau Elske extra mit neuen Schleifen versehen hatte. Dazu wollte er das neue Wams anziehen, darunter ein weißes Männerhemd samt Mühlsteinkragen und einen ganz neu gearbeiteten Rock mit ausladender Zierborte. Das alles war zwar nicht bequem, aber dem Stand angemessen, wenn er in Emden den wichtigen Persönlichkeiten gegenübertrat.
Er hörte in der Küche Elske hantieren. Sie sprach mit der Magd, die ihm das Frühstück bereitete und einen Beutel mit Marschverpflegung zusammenstellte. Als Hinrich den Kopf zur Tür hereinstreckte, glitt ein Lächeln über das Gesicht seines Weibes. »Du freust dich auf die Reise«, stellte sie fest. Sie hatte sich, dem Abschied gemäß, heute besonders zurechtgemacht und trug ein Kleid, über das sich bunte Kassetten in verschiedenen Rottönen verteilten, darüber schaukelten kleine Troddeln aus Goldbrokat. Ihr Haar hatte sie unter einer dezent bestickten kleinen Haube versteckt. Doch die Aufmachung konnte nicht über ihren traurigen Gesichtsausdruck hinwegtäuschen. Hinrich glaubte zu erkennen, wie gern sie ihn begleitet hätte, denn auch für Elske war das Leben auf der
Olden Krochtwarft
alles andere als einfach und bequem. Stets hatten sie mit der großen Feuchtigkeit zu kämpfen und zu dieser Zeit besonders mit den Mücken, die aus dem Moor kamen und in großen Schwärmen über die Bewohner der Herrlichkeit herfielen. Im Winter war es meist ungemütlich. Bei Schnee und Eis gelang es kaum, der Kälte Herr zu werden; regnete es, waren die Wege schlammig und unpassierbar. Und immer wieder gab es an der See Sturm. Mit lauten Böen fegte er über die karge, flache Landschaft, ließ kaum einen Menschen aufrecht gehen. Dabei bestand die Gefahr, dass die neuen Deiche nicht hielten und das Wasser das gerade dem Meer neu abgetrotzte Land überflutete. Hinrich wusste, dass Elske so dachte, aber sie war eine gutmütige Frau, die nie klagte. Sie würde ihn nicht fragen, ob sie mitkommen konnte, denn sie musste sich um die Familie und das Gesinde kümmern, damit Vieh und Hof versorgt waren.
Hinrich trank den Becher kuhwarme Milch, den die Magd, zusammen mit einem Stück Brot aus geweißtem Mehl, auf den Tisch gestellt hatte. Die Kuh war also bereits gemolken worden.
»Ich habe das Brot beim Bäcker gekauft. Seit der neue Hafen von immer mehr Schiffen angelaufen wird, gibt es besseres Mehl«, sagte Elske und wandte sich zum Herd, wo sie in einem Topf Milch erwärmte und die Magd anwies, sich um das Feuer zu kümmern.
»Es wird vieles besser. Warte noch zwei Jahre, dann ist alles fertig. Das neue Siel, die neuen Straßen. Sie beginnen ja bereits mit der zweiten Zuwegung. Möchtest du später in die Neustadt umziehen?« Krechting tunkte das Brot in die Milch. Es schmeckte köstlich.
Elske schüttelte den Kopf. »Nein, es wird mir dort zu eng sein. Zu laut.« Über ihr Gesicht glitt nun ein bedauerndes Lächeln, als schäme sie sich, das Folgende zu sagen: »Seit Münster«, sie stockte, »seit Münster kann ich viele Menschen auf einem Haufen nicht mehr
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