Hiske Aalken 02 - Der Meerkristall
ertragen. Es macht mir Angst. Ich rieche Blut und Schweiß, höre die Schreie …« Sie brach ab, von den Erinnerungen überwältigt, und Hinrich fragte sich, ob er seiner Frau und seinen Kindern vielleicht doch etwas zu viel zugemutet hatte. Nur: Hätten sie eine andere Wahl gehabt?
»Wir können gern auf der
Olden Krochtwarft
bleiben, wenn du dich hier wohler fühlst.«
»Das tue ich, Liebster. Ich mag die Bienenstöcke und das Summen der Tiere im Sommer. Weißt du, ich bin in der letzten Zeit oft müde und nicht immer dem gewachsen, was ich leisten muss. Und in den letzten Tagen denke ich manchmal, ich verfalle dem Wahn.«
Krechting sah seine Frau fragend an, doch sie wandte den Kopf nicht um.
»Es liegt bestimmt an dem Toten im Siel. Das bedrückt mich.« Elske rührte gequetschten Hafer in die kochende Milch, nahm kurz den Topf vom Feuer und gab etwas Salz daran. »Ich denke, es wird dir munden.«
Hinrich war hinter seine Frau getreten. »Lenk bitte nicht ab. Was genau ist los? Was weißt du von dem Toten?«
Elske rührte den Haferbrei heftiger, dass er überspritzte und auf der Herdplatte zischte. »Geschwätz eines Weibes. Der Brei ist gleich fertig, ich habe dir auch gepökeltes Fleisch und gekochte Eier einpacken lassen.«
Hinrich ließ nicht locker, war nicht willens, sich mit ihrem Gerede abspeisen zu lassen. »Elske«, er drehte sie zu sich herum. »Was genau hast du gesehen? Nun lass den Brei die Magd kochen, das ist nicht deine Aufgabe.«
Elske bedeutete der Magd mit einem Nicken, sich weiter um das Essen zu kümmern. »Ich war in der Nacht, an dem dieser Holländer umgebracht wurde, noch mal draußen, brauchte frische Luft. Ich habe ein Weib wimmern gehört. Und die Stimme von dem Mönch, der nach dem Wortsammler gerufen hat. Er schien sehr aufgebracht zu sein. Aber das fand ich nicht beunruhigend, weil der Mönch das öfter tut.«
»Sondern?«
»Da war eine Gestalt. Sie war«, Elske suchte nach den passenden Worten, »sie war merkwürdig. Obwohl sie offensichtlich nicht gesehen werden wollte, lief sie aufrecht, fast als habe sie einen Besenstiel verschluckt.«
»Wer war das? Der Kaufmann? Dieser Friso?«
Elske schüttelte heftig den Kopf. »Nein, den Kaufmann habe ich tags zuvor am Siel gesehen. Er war auch eine stattliche Erscheinung, aber er war nicht so steif. Ich bin mir sicher, dass es nicht Friso van Heek war. Zumal«, Elske sah Hinrich direkt in die Augen, »zumal ich diesen anderen Menschen auch gestern Nacht wieder hier gesehen habe. Und Friso van Heek ist tot. Es wird kaum sein Geist sein.«
Hinrich hieb mit der Faust auf die Kante des Herdes, spürte den Schmerz aber nicht. »Verdammt, ich kann nicht fahren, wenn das alles nicht geklärt ist. Was soll ich nur tun?«
»Ich verriegle die Tür immer fest. Du kannst Hebrich von Knyphausen nicht widersprechen. Wenn sie dich nach Emden schickt, wirst du gehen. Es ist ja nicht für lange. Mache deine Geschäfte, finde heraus, was du benötigst, damit der Wohlstand und der Friede in der Herrlichkeit sich weiter festigen, denn das allein ist deine Aufgabe.«
Elske schob die Magd vom Herd beiseite und füllte den Haferbrei in eine Holzschale, sodass der süßliche Duft durch die Küche zog. Hinrich aß mit abwesender Miene und erhob sich anschließend mit einem sehr unguten Gefühl.
»Steine abladen!«, tönte Lübbert Jans Kremers Stimme durch den frühen Morgen. Er hatte Krechting und Dr. Westerburg verabschiedet und mit einem wehmütigen Blick den gesetzten Segeln am Horizont hinterhergeblickt. Ihm fehlten seine weiten Reisen schon jetzt, aber er hatte sowohl Hebrich von Knyphausen als auch Krechting versprochen, sich um den Bau der Neustadt zu kümmern. In den letzten Tagen und Nächten seit seiner Ankunft hatte er die alten Pläne von Ascheburgs studiert und die Ideen auf seine übertragen, mit denen Oldersums und Appingedams verglichen und alles angepasst. Nun stand der Grundriss der Neustadt endgültig fest. Die erste Straße zum alten Siel war fast fertiggestellt, danach würde der Bau einer weiteren zum neuen Siel erfolgen. Geplant waren ein Weg unterhalb des Deiches und eine Stichstraße von der Hafenstraße dorthin. Damit waren die Grundlagen für die Planstadt festgelegt, Krechting hatte wertvolle Vorarbeit geleistet. Kremer würde ihn hier vermissen und hielt die Entscheidung der Häuptlingswitwe, ihn wegzuschicken, zu diesem Zeitpunkt für äußerst ungünstig. Erst sollte der Flecken stehen, dann konnte sie über ein
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